David Böschs Inszenierung stellt großartig einen gealterten Bassa Selim in den Mittelpunkt der Handlung

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail  Staatsoper Hamburg, 15. Oktober 2022

Foto: Daniel Kluge (Pedrillo), Oleksiy Palchykov (Belmonte), Hulkar Sabirova (Konstanze), Ádám Fischer (musikalische Leitung), Burghart Klaußner (Bassa Selim), Narea Son (Blonde), Ante Jerkunica (Osmin)

Die Entführung aus dem Serail
Wolfgang Amadeus Mozart

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Ádám Fischer, Dirigent

Staatsoper Hamburg, 15. Oktober 2022


von Dr. Ralf Wegner

Selim ist ein Wanderer zwischen den Welten, dem die Zeit zwischen den Fingern verrinnt, ein alter, gebrochener Mann, ohne physische und seelische Energie. Seine Liebe zu Konstanze ist mehr Erinnerung als Empfindung; ein Wiederbelebungsversuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Selim hat nicht einmal mehr die Kraft zum Singen, er kann sich nur noch durch Sprache, nicht mehr emotional verständlich machen.

Selim wurde in Spanien erzogen, wahrscheinlich war seine Familie schon früh zum christlichen Glauben übergetreten. Vielleicht waren es auch zwangskonvertierte Mauren; jedenfalls wurde Selim später, wie andere Zwangskonvertierte, des Landes verwiesen. Er ließ sich im Osmanischen Reich nieder und konvertierte erneut.

Selim blieb aber ein Wanderer zwischen den Welten, dem die Zeit zwischen den Fingern verrann, ein alter, gebrochener Mann, ohne physische und seelische Energie. Seine Liebe zu Konstanze ist mehr Erinnerung als Empfindung; ein Wiederbelebungsversuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Selim hat nicht einmal mehr die Kraft zum Singen, er kann sich nur noch durch Sprache, nicht mehr emotional verständlich machen. Selim gesteht sich ein, dass er Konstanze nicht gewinnen kann, dass die Zeit ihn überholt hat. Er lässt sie mit Belmonte ziehen.

Diese Interpretation legt das großartige Spiel des 73-jährigen Schauspielers Burghart Klaußner nahe: Ein alter gebrochener, im Unschuldsweiß gewandeter Mann, dem nichts mehr gelingt, der sich am Ende wie im Delir um die eigene Achse dreht, aber doch keinen Halt findet; nicht einmal der Tod will ihm gelingen.

Burghart Klaußner Foto: Jörg Landsberg

Ganz in Schwarz gekleidet ist Osmin eine Art Alter Ego, eine frühere Natur Selims. Der hochgewachsene, athletische Ante Jerkunica hat als Osmin Kraft und sängerische Potenz, etwas, an das sich Selim allenfalls noch erinnern kann. Was Jerkunica bei seiner Rollengestaltung fehlte, war jene Mischung aus Jovialität, Verschlagenheit und bäuerlicher Schläue, wie sie gesetztere Sänger des Osmin wie früher Kurt Moll auf die Bühne brachten. Gesanglich war an der Gestaltung des kroatischen Basses aber nichts auszusetzen.

Foto: Jörg Landsberg

Die usbekische Sopranistin Hulkar Sabirova befindet sich, wenn man ihren beruflichen Werdegang verfolgt, auf dem Weg von einer Koloratursängerin zum Spintosopran. Das merkt man ihrer Stimme an. Sie ist fast schon zu groß für die Konstanze. Vor allem ihre erste Arie Ach ich liebte, war so glücklich, litt etwas unter der Lautstärke, vor allem bei den im Forte gesungenen hohen Koloraturen. Dabei hatte sie es überhaupt nicht nötig so zu forcieren, denn das unter der musikalischen Leitung von Ádám Fischer fabelhaft aufspielende philharmonische Staatsorchester dominierte die Sängerinnen und Sänger nie. Gleichwohl war Sabirovas gesangliche Leistung die beste des Abends, auch erhielt sie für ihre große Arie Martern aller Arten im zweiten Akt den längsten Zwischenbeifall.

Ihr Partner Oleksiy Palchykov konnte leider nicht mit ihr mithalten. Seinem hellen, häufig eng klingenden Tenor fehlte es an Wärme, Farbigkeit und damit Stimmschönheit, um den Gefühlen des Belmonte genügend Ausdruck geben zu können. Im Duett am Ende der Oper Welch ein Geschick! O Qual der Seele wurde der Unterschied besonders deutlich, anders als der wunderbare Zusammenklang der Stimmen von Hulkar Sabirova und Narea Son (Blonde) im Quartett Ach Belmonte, ach mein Leben am Ende des zweiten Aktes. Daniel Kluge erfüllte mit seiner ins Heldische gehenden Arie Frisch zum Kampfe, frisch zum Streite im zweiten und mit dem mehr lyrisch-liedhaften Im Mohrenland gefangen war im dritten Akt voll und ganz die Partie des Pedrillo.

Am Ende gab es langanhaltenden Beifall und großen Jubel für Ádám Fischer, der das Philharmonische Staatsorchester zu einer Bestleistung getrieben hatte.

Dr. Ralf Wegner, 16. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail Staatsoper Hamburg, 6. Oktober 2022

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail Staatsoper Hamburg, 17. Oktober 2021 (Premiere)

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail, Grand Théatre de Genève, 24. Januar 2020

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