Holger Speck mit dem Vokalensemble Rastatt und dem Ensemble Resonanz, (Fotos: Dr. Ralf Wegner)
John Neumeiers neuestes Ballett zu Johann Sebastian Bachs h-Moll Messe erschließt sich auch beim zweiten Sehen noch nicht vollständig
Es ist ein Gesamtkunstwerk aus Musik und Tanz, bei dem sich der Tanz der musikalisch grandios dargebotenen h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach unterordnet. Auch Neumeiers Solisten fügen sich in das Gesamtensemble ein. Neumeier hat damit ein nicht hierarchisch strukturiertes, großartiges Gemeinschaftsballett zu einer unvergleichlichen Musik geschaffen.
Dona Nobis Pacem
Choreographische Episoden von John Neumeier, inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll
Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2023
von Dr. Ralf Wegner
Die Aufführungen sind seit langem ausverkauft. Vorgestern sah man sogar vor der Eingangstür eine Dame, die mittels eines Pappschildes um eine Karte bat. Das gab es lange nicht mehr. Schon vor etwa 10 Jahren war es selbst bei hochkarätig besetzten Vorstellungen kaum möglich, eine ungenutzte Karte kurz vorher zu verkaufen oder zu verschenken. Auf gut Glück geht niemand mehr an die Abendkasse. Dafür bleiben dann bei formal ausverkauften Vorstellungen ca. 5% der Plätze nicht besetzt, in der Regel wegen Krankheit oder anderer Verhinderung, wohl nur selten aus allgemeiner Unlust.
Wir saßen recht nah am Geschehen in der ersten Loge in der ersten Reihe Plätze drei und vier. Interessant war der Blick in das dicht gedrängt sitzende Orchester des Ensembles Resonanz (musikalische Leitung: Holger Speck), hinter dem sich 15 Sängerinnen und 17 Sänger des Vokalensembles Rastatt drängten. Die Sopran-Partie 1 wurde erneut von Marie Sophie Pollak gesungen, die Sopran-Partie 2 von der bei der Premiere B durch Katja Pieweck ersetzten Sophie Harmsen. Den zuvor von Julian Prégardien gesungenen Tenorpart hatte Tilman Lichdi übernommen, unverändert blieb die Besetzung des Altus mit Benno Schachtner und der Basspartie mit Konstantin Ingenpass. Kurz zusammengefasst: Die musikalische Seite der Aufführung war großartig und nachhaltig beeindruckend.
Zum Bühnengeschehen: Bei noch voll erleuchtetem Zuschauerraum stürzte plötzlich Louis Musin als verstörter Soldat auf die Bühne, schlagartig wurde es still im Saal. Zitternd und angstvoll robbte er sich über die Vorderbühne und rettete sich in einen Winkel, Anna Laudere schritt schwarzgewandet über die Bühne, legte ihren Mantel über den immer noch Verschreckten. Lennard Giesenberg trat als Kriegsreporter und Aleix Martinez als Er auf, einem neuzeitlichen, weltendurchwandernden Christus gleichend. Dann hob Holger Speck den Taktstock und Johann Sebastian Bachs großartige Messe in h-Moll begann.
Die 28 Nummern im Detail wiederzugeben ist schier unmöglich. Mangels Beleuchtung lässt sich das Geschehen anhand des Programmzettels nicht verfolgen. Manche Einzelheiten fielen neu auf. So die jungen Frauen, angeführt von Madoka Sugai, die mit Grand Jetés imponieren und im Sprung den Oberkörper zur Seite drehen oder, nach der Pause, die in einer Reihe von der Hinterbühne nach vorn gereiht tanzenden Ensemblemitglieder, die immer wieder von dem umher irrenden Aleix Martinez durchkreuzt werden.
Noch aus der ersten Aufführung erinnerlich beeindruckt unverändert der harmonische Pas de deux von Edvin Revazov und Anna Laudere im ersten Teil, ebenso das furiose Hiroshima-Solo von Alessandro Frola. Über allem steht jedoch die Leistung von Aleix Martinez, der nahezu während der gesamten Aufführungsdauer auf der Bühne steht und immer wieder mit physisch erschöpfenden Soli glänzt. Weitere Soli, u.a. von Alexandr Trusch, und Pas de deux heben sich ab, wie von Jacopo Bellussi und Ida Praetorius oder von Christopher Evans und Xue Lin.
Neumeier benennt laut Programmzettel namentlich Gruppen wie Geistliche, Engel, Soldaten, Witwen, Eine Gemeinde oder Jogger. Letztere sind als solche ebenso erkennbar wie die Soldaten, vor allem die sich aus der Ballettschule rekrutierenden Kindersoldaten; sonst erschließt sich die Zuordnung der Gruppen zu einer irgendwie gearteten Handlung aber nicht. Dafür steht auch die Bachsche Musik zu stark im Vordergrund. Es ist ein Gesamtkunstwerk aus Musik und Tanz, bei dem sich der Tanz der musikalisch grandios dargebotenen h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach unterordnet. Auch Neumeiers Solisten fügen sich in das Gesamtensemble ein. Jeder und jede könnte den Part des anderen oder der anderen übernehmen. Neumeier hat damit ein nicht hierarchisch strukturiertes, großartiges Gemeinschaftsballett zu einer unvergleichlichen Musik geschaffen.
Dr. Ralf Wegner, 6. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at