Pathys Stehplatz (17) – Zwischen Tyrannei, Regietheater und Tradition: Staatsoperndirektor Bogdan Roščić lotet in Wien die Grenzen aus

Pathys Stehplatz (17) – Zwischen Tyrannei, Regietheater und Tradition  klassik-begeistert.de, 17. Januar 2023

Foto: Bogdan Roščić ©

von Jürgen Pathy

Wenn das Wort Regietheater fällt, stellt es vielen die Zehennägel auf. Drehende Bühnen, vor lauter Symbolik kaum zu entschlüsselnde Sujets und als Höhepunkt der Entgleisungen: Ein Lohengrin, der ohne Schwan in Brabant auftaucht. Hätten viele vor Jahrzehnten kaum für möglich gehalten. Seit den 1980er Jahren ist alles anders. Da hatte sich das Wort „Regietheater“ bereits etabliert.

Die Diskussionen nehmen seit dem kein Ende. Auf Hirngespinste, die Regisseure in ihren stillen Kämmerlein ausbrüten, darauf haben viele keine Lust. Nun haben sie auch Wien erreicht. Seitdem Bogdan Roščić das Ruder an der Wiener Staatsoper übernommen hat, rollen sie vermehrt vom Stapel. Zum Ärgernis einiger.

Ein Alphatier ist genug

„Was treibt der Roščić da so“, höre ich einige jammern. „Ist der mittlerweile völlig abgehoben?“ Ins Rennen werfen seine schärfsten Kritiker da einiges. Nicht nur die Flut an modernen Neuproduktionen, mit denen Roščić die Wiener Staatsoper völlig umzukrempeln versucht, ist denen ein Dorn im Auge. Auch für seinen Führungsstil hagelt es scharfe Kritik. Dem „Jugendwahn“ sei er verfallen, sein Ton des Öfteren mehr als nur unpassend. Eine Atmosphäre der Angst wollen einige an der Wiener Staatsoper gar ausfindig gemacht haben.

Wer Roščić schon einmal in Action erlebt hat, kann das vielleicht sogar nachvollziehen. „Das ist eine Frechheit!“, hat man ihn schon mal vorm Bühneneingang fauchen hören. Da war die Corona-Pandemie gerade auf ihrem Höhepunkt. Und Roščić wenig darüber erfreut, dass Autogrammjäger seinen Sängern nach der Vorstellung aufgelauert hatten. „Sie gefährden meine Sänger.“ Viel mehr hat es nicht benötigt. „Was heißt da IHRE Sänger“, hatte sich der Zorn der Menge gleich über ihn ergossen.

Seitdem dringt nicht mehr ganz so viel durch. Vielleicht auch deswegen, weil Roščić den Kontakt zum Publikum eher meidet. Bis auf die Matineen und den unbeliebten Schritt vor den Vorhang, um krankheitsbedingte Ausfälle zu verkünden, zeigt er sich nur selten. Im Foyer des Hauses lässt er sich gar nicht blicken. Am Künstlereingang erwischt man ihn auch nur selten. Und falls doch, dann zischt er nach den Vorstellungen im Eiltempo vorbei – Kopf nach unten, ohne jemals gegrüßt zu haben.

Foto: Philippe Jordan, © csm Portrait

Bis vor kurzem. Da konnte man sich ein Bild davon machen, wie verhärtet die Fronten intern im Augenblick sein dürften. Bislang hatten sich Musikdirektor Philippe Jordan und Roščić immer gemeinsam auf der Bühne gezeigt – bei den beliebten Sonntagsmatineen, die im Vorfeld von Neuproduktionen einen Einblick in die Werke und in die Arbeit der Künstler liefern sollen. Zur Meistersinger-Matinee dann der klare Bruch. Fast schon perfekt orchestriert, hatte man das Programm so gestaltet, dass Jordans und Roščićs Wege sich kein einziges mal kreuzten.

Was war passiert? Mit Ende 2025 endet Jordans Vertrag als Musikdirektor der Wiener Staatsoper. Über die Ursachen wurde schon viel diskutiert. Jordan schiebt seinen Abgang dem ausufernden Regietheater in die Schuhe. Er habe keine Lust mehr auf den „fatalen Irrweg“, auf dem sich die Regie befindet. Roščić begründet Jordans Abgang ganz anders. „Szenische Bedenken“ vonseiten Philippe Jordan habe es überhaupt nicht gegeben. Darüber sei man sich bereits im Sommer über das Jahr 2025 hinaus einig gewesen. Jordans Vertrag habe Roščić aber aus „anderen Gründen“ nicht verlängern können. Ganz schlau wird man aus der ganzen Geschichte nicht. Klar ist nur: Die beiden trennen sich im Streit.

Autokratie statt Demokratie

Generell scheint die Stimmung im Haus angespannt. Von der „Regentschaft“ Roščić sprechen einige da gar. In puncto Mitarbeiterführung scheint der gebürtige Belgrader allerdings nicht der erste zu sein, der die Zügel etwas straffer hält. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit reicht aus. Dass man mit einem autokratischen Führungsstil durchaus punkten kann, hat schon Ioan Holender bewiesen. Dem eilte auch nicht gerade der Ruf voraus, zimperlich im Umgang mit seinen Mitarbeitern gewesen zu sein.

Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen? – hat er eines geschafft: Holender ist Rekordhalter. Noch nie in der langen Geschichte der Wiener Staatsoper hat es ein Direktor vollbracht, sich so lange an der Spitze zu behaupten. Ganze neunzehn Jahre lang, kurz davon gemeinsam mit Eberhard Waechter, war Ioan Holender Direktor der Wiener Staatsoper. Von 1991 bis 2010. Einsamer Rekord.

18/7/2020 /Ioan Holender wird heute 85. Wir gratulieren! Foto: Youtube

Bis dahin ist es für Bogdan Roščić noch ein langer Weg. Wenig entzückt zeigten sich einige, als im Frühjahr bekannt wurde, dass Roščićs Vertrag um weitere fünf Jahre verlängert wurde. Im Juni 2020 war er als Direktor der Wiener Staatsoper angetreten, um den Altersdurchschnitt des Publikums deutlich zu senken. Ein mutiges Unterfangen. Über den Fortschritt äußerte sich Roščić bislang nur vage. Ein Grund für die Unklarheit sei, dass es darüber nur lückenhafte Aufzeichnungen gäbe. „Wie wir im neuen Ticketing-System das Alter besser erfragen, ist noch in Arbeit“, sagte Roščić vor kurzem in einem Zeitungsinterview.

Dass der Altersdurchschnitt des Publikums an der Wiener Staatsoper allerdings deutlich über dem vergleichbarer Häuser liegt, dafür gibt es ausreichend Hinweise. Um die zehn Jahre sollen es sein. Das haben anderweitige Recherchen ergeben. Bis 2030 bleibt Roščić zumindest noch Zeit, um das zu ändern.

Wenn das Hitradio Ö3 die Wiener Staatsoper übernimmt

Wie er bis dahin weiterhin neue Publikumsschichten ansprechen mag, wird sich noch weisen. Dass die Wiener Staatsoper kein Hitradio Ö3 ist, dürfte der Marketing-Abteilung mittlerweile auch schon dämmern. Von 1993 bis 2001 war Roščić beim österreichischen Radiosender beschäftigt. Hauptaugenmerk legt der Radiosender bis heute auf Popmusik und seichte Unterhaltung.

Bis damals dürften auch die Verbindungen zu Susanne Athanasiadis zurückreichen, die Roščić im September 2020 mit an Bord der Wiener Staatsoper geholt hat. Sie leitet seitdem die Marketing-Abteilung des Hauses. Beim Radiosender Ö3 war sie von 1992 bis 2002 im selben Bereich aktiv. Ihre Handschrift ist deutlich zu spüren.

Zwar hat man da mittlerweile ein wenig den Fuß vom Gas genommen. Die Leuchtreklame an der Fassade zum Beispiel, an der auch mal verstorbenen Grunge-Idolen wie Eddie Vedder gehuldigt wurde, hat man wieder abmontiert. Ebenso musste das pompöse Design des eisernen Vorhangs wieder daran glauben und etwas gediegeneren Abbildungen weichen. Anfangs zierte den noch ein dekadentes Abbild der afro-amerikanischen RnB Künstlerin Mary J. Blige. Dennoch: Die Ausläufer der aggressiven Strategie, die wehen einigen noch immer zu stürmisch durchs Haus.

Regietheater meets Tradition

Streitthema Nummer 1: die Neuproduktionen. Die sorgen mit für die größte Aufregung. Überraschen dürfte das allerdings niemanden. Ob man es wollte oder nicht: Dass man mit Regietheater in Wien auf heftigen Widerstand stoßen würde, muss bereits im Vorfeld klar gewesen sein. Und nichts anderes hatte Bogdan Roščić angekündigt. Wie sonst hätte man es deuten sollen, als Roščić noch vor Beginn seiner Amtszeit eine „Oper 4.0“ ausgerufen hatte?

„Modernistischer Mist“, nennen das einige. Alles andere als subversiv, woanders schon zigfach durchgekaut und wieder ausgespuckt, nutzen andere wiederum das Pro von Roščić als deren heftigstes Contra. Nach Kosky, Bieito und Neuenfels würde anderswo sowieso kein Hahn mehr krähen. Gut möglich, dass solch einer Kritik eine gewisse Substanz zugrunde liegt, mehr als nur eine persönliche Tendenz alles in puncto Regietheater aus Prinzip abzulehnen. Klar ist: In Wien bricht Roščić mit solchen Regisseuren schon ganz heftig mit der Tradition.

Nicht umsonst heißt es, in Wien ticken die Uhren ein wenig langsamer. Ein Blick aufs Neujahrskonzert offenbart alles: Seit jeher rühmt man sich in dieser Stadt der glorreichen Vergangenheit. Johann Strauß Vater und Sohn, dessen Brüder und Nachfahren, die alle irgendwie mit dem Walzerklang und der Donaumonarchie verbandelt sind – alles große Errungenschaften, aber auch riesige Verlockungen, um in Nostalgie zu verfallen und in der Vergangenheit zu verharren. Reaktionär statt innovativ, damit erntet man in Wien noch immer leichter Zuspruch als mit assoziativem Regietheater.

Otto Schenk – die Galionsfigur des Altbewährten

Anders lässt sich vieles in Wien gar nicht erklären. Warum sonst kutschiert man hier Touristen noch immer in Fiakern um die Ringstraße. Warum sonst hält man hier Exportschlager wie „Sissi“ und „Franzl“ genauso hoch, wie k. und k. Hofzuckerbäckereien und die Wiener Sängerknaben. Und warum sonst wagt es kaum einer, sich mit den lebenden Regie-Dinosauriern der Stadt anzulegen. Mit Otto Schenk zum Beispiel. An den hat sich bislang auch Bogdan Roščić kaum getraut.

„Andrea Chénier“, „Die Fledermaus“, „Der Liebestrank“ – alles Inszenierungen, die teilweise bereits mehrere Jahrzehnte am Buckel tragen. Alle stehen sie noch am Spielplan. „Der Rosenkavalier“, die älteste der Schenk-Inszenierungen, aus dem Jahr 1968, ebenso noch im Repertoire. Die hat sich vor kurzem nur einer Verjüngungskur unterziehen müssen. Musikalisch neu einstudiert, nennt sich das dann. Nicht ein Haar hat Roščić diesen Schlachtrössern gekrümmt.

Otto Schenk bei der Nestroy-Theaterpreisverleihung 2010 im Wiener Burgtheater ©wikipedia

Ganz im Gegenteil: Otto Schenks „Fidelio“, den holt Roščić im Februar 2023 wieder aus der Versenkung. Fast 53 Jahre hat diese Inszenierung bereits am Buckel. Am 24. Mai 1970 feierte die Premiere. Damals noch im Theater an der Wien. Am Pult damals: Leonard Bernstein. Das Bühnenbild stammt von Günther Schneider-Siemssen. Das einzige, was man Roščić diesbezüglich vielleicht ankreiden könnte: Die „Meistersinger“ Inszenierung von Schenk, die hätte er wieder aufnehmen können. 2012 hatte Vorgänger Dominique Meyer die zum letzten Mal gespielt. Stattdessen hat Roščić eine Neuproduktion von Keith Warner ans Haus geholt. Die hat allerdings auf allen Linien einen großen Erfolg verzeichnet. Alles halb so wild, könnte man also meinen. Nicht ganz: Mit einigen Regisseuren strapaziert Roščić ganz kräftig die Nerven.

Regietheater À la Simon Stone – Man kann es auch übertreiben

Auch mir blutet das Herz, wenn ich Simon Stones Namen zu oft im Programmheft lese. Mag der Shootingstar der Szene für manche noch so „geil“ sein, den ein oder anderen Opernabend hat der mir bereits versaut. „Überschreibungen“, so nennt Stone seine Arbeiten. Das Konzept des gebürtigen Schweizers, der lange Zeit in Australien gelebt hat: Alte Klassiker durch den Fleischwolf drehen und teils sogar mit neuem Text in die Gegenwart transportieren. Damit hat Stone es nun bis an die Wiener Staatsoper geschafft.

Die Prognosen sind gar noch unerfreulicher: Das ganze Jahrzehnt noch könnten seine Arbeiten die Opernbühnen dominieren. Meint zumindest jemand, der ganz tief mit der Materie vertraut ist. Ein Horror-Szenario. Bis zu einem gewissen Grad könnte ich damit sogar leben. Sehr gut sogar!

Von Manfred Werner – Tsui – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44822898

Solange man Simon Stone auf Alban Bergs „Wozzeck“ loslässt, habe ich durchaus Verständnis dafür. Aus ganz banalen Gründen: Wer begibt sich schon in ein Opernhaus, um bei dieser durchgeknallten Musik – und nichts anderes ist ein Wozzeck – Abstand von der Realität zu gewinnen?! Die wenigsten vermutlich. Ist aufgrund der Dissonanzen, die stark an der Grenze der Zwölftonmusik kratzen, einfach nicht möglich. „Wozzeck“ oder „Lulu“, das ist der reine Irrsinn, umgesetzt in einer schwer zu verdauenden Musiksprache.

Versperrt er mir aber harmonische Fluchtwege, wie meine geliebte „La Traviata“, die definitiv als Ausweg aus dem Alltag dienen kann, ist Schluss mit lustig. Da stehe ich ganz auf Jonas Kaufmanns Seite, obwohl ich den sonst gerne durch den Schlamm ziehe. Der hat erst vor kurzem angeschnitten, dass genau das der Grund sei, warum es seit Jahrzehnten einen derart erheblichen Besucherschwund gäbe. „Die Leute mussten zur Kenntnis nehmen, dass ein Opernbesuch nicht mehr unbedingt einen entspannenden Abend mit sich bringt, sondern, dass sie, im Gegenteil mit den Problemen unserer Zeit konfrontiert werden.“ Das sei es nicht, was Opernbesucher suchen.

Ganz recht mag er damit vielleicht nicht behalten. Der Blick an die New Yorker Met könnte auch anderes verheißen. Überall dort, wo man verstaubte Regie-Reliquien noch immer zwanghaft am Leben hält, dort schwinden die Besucherzahlen genauso. Dennoch habe ich keine Lust darauf, von WhatsApp-Nachrichten bombardiert zu werden, die über die Leinwand flimmern, während Violetta beim Digital-Detox auf der Alm, vielleicht auch noch Kühe melkt.

Die Zukunft der Wiener Staatsoper

Aber: Irgendwo muss man auch das große Ganze sehen. Den Überblick behalten. Abstand nehmen von persönlichen Präferenzen, das Ego ein wenig drosseln und hinten anstellen – und stattdessen die Zukunft der Kunstgattung Oper in den Mittelpunkt stellen. Auch wenn einige daran zweifeln, dass die mit modernem Regietheater zu retten sei. Einem jungen Publikum, dessen Aufmerksamkeitsspanne sich bereits nach 30 Sekunden schwer erschöpft hat, die ewig alten Schinken vor die Nase zu werfen, kann nicht die Lösung sein.

Barrie Kosky Foto: © Jan Windszus, Barrie Kosky

Da bleibt einem Operndirektor gar nichts anderes übrig, als die teilweise gegen „modernen Unfug“ zu ersetzen. Am besten natürlich klug inszeniert. Barrie Koskys „Don Giovanni“ soll da als Paradebeispiel dienen. Auch wenn da rund zweieinhalb Stunden nur vor einer kargen, dunklen Vulkanlandschaft gespielt wird, der gebürtige Australier schafft es ganz einfach, durch atemberaubende Personenführung ein 240 Jahre altes Kunstwerk neu zu erschaffen und lebendig zu gestalten.

Oder die „Entführung aus dem Serail“, mit der Bogdan Roščić das enfant terrible der Regie, Hans Neuenfels, nach langer Abstinenz wieder an die Wiener Staatsoper geholt hatte. Gott hab ihn selig. Am 6. Februar 2022 erst war Neuenfels im Alter von 80 Jahren in Berlin verstorben. Von der Idee, die Protagonisten zu verdoppeln, also von einem Schauspieler ständig auf der Bühne begleiten zu lassen, kann man halten, was man will. Neuenfels begründete es damit, dass kaum ein Sänger in der Lage sei, in Sekundenschnelle von der Singstimme in die Sprechstimme zu schalten. Neue Publikumsschichten hat man damit definitiv angezogen. Und das ist Roščićs Auftrag.

Selten hat mein Auge auf der Galerie der Wiener Staatsoper so viel junges Publikum erblickt, das gefühlt ebenso an den umliegenden Sprechtheatern heimisch hätte sein können, wie auch in irgendeinem Hipster-Club aus der großbürgerlichen Josefstadt. Einem Wiener Bezirk, der an der einen Seite an die Wiener Innenstadt grenzt und am anderen Ende an den Wiener Gürtel.

Das Publikum außerhalb des Gürtels, aus den Arbeiterbezirken, teils mit vielen Immigranten bevölkert, das wird Roščić sowieso nur schwer erreichen. Da sind andere gefragt. Aber mit einer Häfn-Inszenierung à la Kirill Serebrennikov könnte der Versuch nicht ganz so kläglich scheitern. „Häfn“ steht in Wien übrigens für Gefängnis. So hart einige mit dieser Inszenierung ins Gericht gegangen sind, ganz banal betrachtet, hat auch diese Neuproduktion eine enorme Sogwirkung entwickelt.

Ein ästhetisches Gesamtkunstwerk würde ich das nennen. Bei der sich Musik und Bühne nie im Wege gestanden haben, sondern immer Hand in Hand einen Treueschwur geleistet, der einen eingeladen hat, auf ewig durchfluteter Gralsmusik die Mauern des Jenseits zu durchbrechen. „Eine tadellose Inszenierung“, höre ich da noch immer die Stimme meiner Begleitung. Die, muss ich zugeben, stammt eher aus dem Zielpublikum, ist aber auch nicht gerade dafür bekannt, in große emotionale Ausbrüche zu verfallen und verirrt sich auch nur sporadisch in die Oper. Genau die versucht Roščić eben auch zu erreichen.

Bogdan Roščić © Lalo Jodlbauer

Solange er das schafft, ist noch nicht alles verloren. Selbst in Wien nicht, wo sowieso immer alles „Orsch“ ist, um es im heimischen Jargon zu erläutern. Wichtig ist nur, dass Roščić weiterhin den Spagat schafft. Die Jugend locken, das Stammpublikum bei Laune halten.

Gelingt ihm das, hat er womöglich noch nicht alle Sympathien verspielt. Auch nicht bei denen, die ihm einen rauen Umgangston vorwerfen. Übertreibt er es, jagt man ihn vermutlich sowieso noch über den Jordan.

Solange er aber noch die Publikumsmagneten nach Wien zieht, scheint die Schmerzensgrenze noch lange nicht erreicht – Kaufmann, Garanča & Co bügeln schon den Rest.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 15. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

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5 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (17) – Zwischen Tyrannei, Regietheater und Tradition
klassik-begeistert.de, 17. Januar 2023“

  1. Und was will uns der Dichter sagen? Ist R. nun grauslich oder macht er doch (fast) alles richtig?
    Der Schreiber vermischt Regietheater mit zetgenössischem Bühnenbild und ebensolchen Kostümen. Der Andrea Chenier der Schenk-Inszenierung ist zwar der Zeit angepasst, in der die Oper spielt, ist aber totlangweilig, weil genau das fehlt, was die Stölzl in München meisterhaft gelungen ist: das Drama auf die Bühnezu bringen und nicht in hübscher Dekoration zu verharren. Wallmanns Tosca leidet an demselben Mangel, vor den Namen des seinerzeitigen Regisseurs der derzeit laufenden Aida hat man klugerweise „Regiekonzept“ auf die Castliste geschrieben. Dieser Schinken hat wahrlich ausgedient….
    Wie war das eigentlich mit Welser-Möst und Meyer?
    Wo war Roscic zwischen Ö3 und Staatsoper? Die sehr erfolreich geführten Klassikabteihungen von DECCA und SONY lassen manche gerne weg, um ja keine Nähe zur Klassik anerkennen zu müssen.
    Stramme Führung hat ein so großes Unternehmen in Wien (!!!) wahrlich nötig, die sprichwörtliche Gemütlichkeit hat dort nichts verloren.
    Ein paar Worte zum Corona-Management fehlen; mit Absicht?
    Also: Was sollte der Text sagen? Vielleicht nur die Anwesenheit des Schreibers auf dem Stehplatz öffentlich bekannt machen?

    Waltraud Becker

  2. Sehr geehrter Pathy,
    anfangs las ich Ihren Artikel noch mit einem gewissen Vergnügen. Bis dann folgende Stelle kam: „Wer begibt sich schon in ein Opernhaus, um bei dieser durchgeknallten Musik – und nichts anderes ist ein Wozzeck – Abstand von der Realität zu gewinnen?!“ Wozzek wurde 1925 uraufgeführt, Sie sind Jahrgang 1976, die Musik dieses Meisterwerkes ist also 50 Jahre älter als Sie, aber offenbar moderner. Ich habe vor allem Wozzek mehrfach gut „verdaut“, um in Ihren Kategorien zu bleiben. Wir hatten nämlich einen Musiklehrer, der im Jahr 1968 (!) mit uns dieses Werk besprach und eine Aufführung in der Frankfurter Oper besuchte. Klar, dass ist keine Musik in der man „ersaufen“ kann, wie z.B. bei Puccini oder Wagner (ein Sorry an alle Wagnerianer, dass ich die beiden in einem Atemzug nenne), das ist keine Oper, die an der Oberfläche kratzt, wie ein Freischütz oder eine Carmen, das ist keine Oper, in die man unvorbereitet gehen kann. Das ist eine Oper mit unglaublichem Tiefgang, einer Musik und einer Geschichte, die wirklich unter die Haut geht. Das ist halt keine Musik um „Abstand von der Realität zu gewinnen“. Ist das Aufgabe der Oper, ist das Aufgabe von Kunst?

    Prof. Karl Rathgeber

    1. Sehr geehrter Herr Prof. Rathgeber,

      Lassen Sie es mich so sagen: Es gibt Opern, die sind in der Lage, schon alleine ihrer Musik wegen einen enorm leichten Zugang zu gewähren. Rein aufgrund ihres harmonischen Gefüges. Eine „Traviata“, ein „Simon Boccanegra“ oder ein „Lohengrin“ schießen mir da so auf die Schnelle durch den Kopf. Dann gibt es Opern, wo sich das total konträr verhält. Ein „Wozzeck“, eine „Lulu“. Das sind sicherlich alles große Kunstwerke, die sich aber musikalisch nicht für jeden auf Anhieb erschließen lassen. Die sind schrill. Musikalisch schräg. Total abgefahren, um es in der Umgangssprache der Jugend zu sagen.

      Das heißt nicht, dass ich sie nicht schätze. Allerdings auf einer anderen Ebene als harmonisch leicht zugängliche Werke. Dort, bei einem „Lohengrin“ oder von mir aus auch bei einem „Parsifal“, da möchte ich nicht von der Bühne abgelenkt werden. Bei diesen Werken liegt mein Fokus ganz klar bei der Musik, die sich aufgrund der harmonischen Schönheit und ausladenden Spannungsbögen dazu anbietet, einfach mal abzuschalten. Also ja: Die Flucht aus der Realität zu suchen. Das genieße ich. Für mich hat sich auch noch nie die Frage gestellt: „Prima la musica, dopo le parole?“ Also, was kommt zuerst – die Musik oder der Text? Für mich war der Text schon immer nur der Diener der Musik.

      Zu Ihrer Frage, ob das die Aufgabe der Kunst ist, darüber kann man sicherlich streiten. Einige suchen in der Oper vielleicht die intellektuelle als auch philosophische Herausforderung, andere eher einen entspannten Musikabend. Ich finde mich in beiden Gruppen wieder. Bin allerdings felsenfest überzeugt, Musik und Bühne sollten sich nicht im Wege stehen. Damit meine ich gar nicht, dass die Szene auf der Bühne und der Text im Libretto immer zu hundert Prozent identisch sein sollten. Ich bin kein Verfechter der alten Schule. Ob die Kundry nun Klingsor mit einer Pistole richtet, wie bei Serebrennikovs Inszenierung, spielt keine Rolle. Mit dieser Metapher kann ich leben.

      Für mich gibt es aber eine gewisse Ästhetik. Eine, die ganz banalen Ansprüchen zu folgen hat. Ein „Parsifal“ zum Beispiel, den soll man von mir aus verlegen, wohin man meint. Ob in ein Gefängnis, in eine Irrenanstalt oder in einen Zaubergarten, der optisch dem an der Amalfiküste gleicht. Dort soll Wagner ja die Idee gekommen sein. Das hat für mich keinen vordergründigen Wert. Solange die Regie zumindest den Eindruck hinterlässt, sich dabei ordentlich den Kopf zerbrochen zu haben. Fragen können dabei ruhig offen bleiben. Klare Antworten sind nicht immer nötig.

      Ich möchte aber, dass sich auf der Bühne kein Panoptikum einschleicht, keine grellen neonfarbenen Bilder, die ständig aufblitzen, während sich aus dem Graben ja eigentlich die Aura des Grals über das ganze Werk legen sollte. Das widerspricht meiner Vorstellung von Ästhetik. Serebrennikovs schwarz-weiße Häfn(Gefängnis)-Inszenierung hat das zum Beispiel nie getan. Wie grässlich oder widersprüchlich einige diese Inszenierung auch beurteilt haben, aus dieser banalen Sichtweise ist sie mehr als nur gelungen.

      Bei der „Traviata“ tappt Stone hingegen genau in diese Fälle. Zumindest aus meinem Verständnis. Während aus dem Graben eine für mich bernsteinfarbene Musik entströmt, stören auf der Bühne grelle Farben und neongrüne WhatsApp-Nachrichten. Für mich ein unerträglicher Anblick. Wenn der Regisseur schon meinen Ausweg aus der Realität vermiest, dann bitte zumindest nicht in so widersprüchlichen Farben. Das ist eigentlich mein größter Kritikpunkt. Unabhängig davon, dass gewisse Sujets in einer konservativen Inszenierung besser aufgehoben sind.

      Was Simon Stone diesbezüglich dann bei einem „Wozzeck“ treibt, beurteile ich aus einer anderen Perspektive. Immerhin ist das keine Musik, der ich mich aussetze, um harmonische Stunden in der Oper zu erleben. Dass, das schräg und abgefahren wird, dessen bin ich mir schon zuvor bewusst. Da wäre es mir auch gleichgültig, wenn auf der Bühne gleißende Stroboskoplichter sich mit randalierenden Hooligans in Gelsenkirchen duellieren würden. Nur als plakatives Beispiel, worauf ich hinaus will. Solange der Regisseur den zugrunde liegenden Sinn des Sujets nicht komplett auf den Kopf stellt natürlich. Hat er meines Erachtens bei der Wiener Neuproduktion auch nicht.

      Jürgen Pathy

    2. Sehr geehrter Herr Prof. Rathgeber,

      bei der vorigen Antwort bin ich etwas abgeschweift. Kurz und bündig: Oper sollte beides. Sie sollte mir die Möglichkeit bieten, den Abstand von der Realität zu finden. Ebenso sollte sie mich dazu anregen, nachzudenken. Ich liebe es, wenn Oper einige Fragen aufwirft, auf die der Regisseur auch mal keine klaren Antworten liefert. Im Theater an der Wien hat Ex-Intendant Roland Geyer das oft ermöglicht.

      Aber, ich denke, viele Opern sind musikalisch nicht dazu geeignet, als dass man sie mit unüberlegtem Regietheater verhundsen sollte. Die „Traviata“ ist eine dieser Opern. Andere Werke, deren Musik nicht derart verführerisch klingen, sollen von mir aus den Fokus auf die Bühne, den Intellekt und die vermeintliche Message dahinter ziehen. Ohne dem „Wozzeck“ zu nahe treten zu wollen, der kommt in puncto Harmonie niemals an Werke der Romantik, der Wiener Klassik oder des Barock heran. Damit meine ich Harmonie im ganz klassischen Sinne. Das, was jeder Nichtmusiker auch unter diesem Wort verstehen würde.

      Ist natürlich auch nicht der Anspruch. Der „Wozzeck“ fesselt anders. Genauso wie eine „Elektra“ oder eine „Salome“ leben diese Opern vom Irrsinn, von der schrägen Musik. Die halten einen teilweise über 20 Minuten an der Sesselkante, liefern Hochspannung vom Feinsten. Ich möchte nur den Schlussgesang der Salome ins Rennen werfen. Der „Wozzeck“ kann das teilweise auch.

      Bei dieser Musik nehme ich es auch gerne an, dass mir Fragen gestellt werden. Dass die Oper unangenehm werden kann. Dass die 90 Minuten keine Erholung bieten. Bei einigen Verdi-Opern, vielleicht auch anderen, allerdings nicht. Dort habe ich keine Lust, von irgendwelchem Schwachsinn auf der Bühne abgelenkt zu werden. Das ist einfach zu schöne Musik. Die möchte ich in Ruhe genießen. Ohne Störung von den Rängen, von Handies oder von Regisseuren, die die banale Ästhetik zwischen Graben und Bühne nicht im Auge behalten.

      Jürgen Pathy

  3. Sehr geehrter Herr Pathy,
    Ihre Kritik am „Regietheater“ kann ich teilweise nachvollziehen. Ihre Kritik am derzeitigen Direktor der Wiener Staatsoper kann ich nicht beurteilen.
    Was mich jedoch gestört hat, waren folgende Formulierungen: „ … um bei dieser durchgeknallten Musik – und nichts anderes ist ein Wozzeck“ … sowie „Wozzeck oder Lulu, das ist der reine Irrsinn, umgesetzt in einer schwer zu verdauenden Musiksprache“.
    Um es kurz zu sagen, Wozzeck und Lulu sind weder „durchgeknallt“ oder der „reine Irrsinn“. Es sind zwei Meisterwerke.

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