Foto: John Lundgren © Moklos Szabo
von Jürgen Pathy
Der Star sitzt im Graben. Nachdem sich der Ring-Zyklus letzten Sonntag fulminant zu Ende geneigt hat, ist wieder eines klar geworden: Wer an der Wiener Staatsoper reüssieren will, der muss sich mit dem Staatsopernorchester arrangieren. Eine Sache der Konstitution und Erfahrung. Dass man diese Routine nicht über Nacht erlangt, musste selbst Lise Davidsen erkennen – wenn auch nicht in der Art und Weise wie der gescholtene Herrscher von Walhall.
Wien ist anders
Das merkt man nicht nur daran, dass man den Kellner im Kaffeehaus noch immer mit „Herr Ober, bitte zahlen“ zum Tisch ordert. Oder, dass einem in der Millionenstadt noch immer der Flair eines Dorfes entgegenweht. An jeder Ecke der viel zitierten Musikhauptstadt trifft man auf Personen, deren Wege man schon lange nicht mehr gekreuzt hat. Auch an der Wiener Staatsoper herrschen eigene Gesetze.
Da wäre zum einen das enorm kritische und fachkundige Publikum, das sich regelmäßig auf den Stehplätzen versammelt. Kaum eine Vorstellung, die man nicht mit Argusaugen verfolgt und in den Pausen bis ins kleinste Detail zerlegt und kritisiert. Dabei geht man teilweise hart ins Gericht.
Wie oft habe ich schon gehört, dass eine Aufführung schrecklich sei, zum Vergessen – generell sei überhaupt alles schlecht. Seit Roščić das Ruder übernommen hat, sowieso. Dennoch steht der Herr, vermutlich um die 60, immer wieder in der Schlange. Meist schon Stunden vorher, um die besten Plätze auf der Stehplatzgalerie zu ergattern. Bei Wagner spitzt sich das alles noch zu.
Ich habe Stammpublikum erlebt, das sich vor Schmerzen gewunden hat, als die Hörner kiecksend in den Untiefen des Rheingold-Vorspiels versunken sind. Damen, die fluchtartig von der Stehplatzgalerie gestürmt sind, weil Brünnhilde kreischt – bei diesem Zyklus, wo Nina Stemme sich die Gottheit von der Stirn hat küssen lassen, zum Glück nicht. Und Herren, die sich beinahe die Seele aus dem Leib gebuht haben, weil sie ihrem Unmut derart viel Vehemenz verliehen, dass dieser fast schon eruptiv in Richtung Bühne schoss. Diesen Zorn bekam dieses Mal vor allem einer zu spüren – John Lundgren, der als Wotan nicht nur Vorort viel Dresche kassieren musste.
In Walhall regiert der Frust
„In Walhall fehlt nur ein würdiger Herrscher“, titelte Walter Weidringer in der Presse. Andreas Schmidt, Kollege und Herausgeber von klassik begeistert, zeigte sich ebenso wenig erfreut. Dass Lundgren seinen „Gesangsmotor“ erst in den letzten Sekunden der Walküre richtig angeschmissen habe, sei zu wenig. „Davor herrschte wotanmäßig oft bonjour tristesse.“
Ganz so schlimm habe ich das nicht empfunden. Obwohl ich die Kritik bis zu einem gewissen Maße durchaus teile, möchte ich diesen Wotan zumindest ein wenig in Schutz nehmen.
Natürlich fehlt es Lundgren, der im Sommer auch in Bayreuth als Herrscher von Walhall gastieren wird, an der göttlichen Präsenz und stimmlichen Durchschlagskraft, die zum Beispiel einen Tomasz Konieczny auszeichnen. Dem kann Lundgren nicht das Wasser reichen, schon gar nicht an der Wiener Staatsoper.
Dennoch darf man nicht außer Acht lassen, dass der 53-jährige Schwede durchaus öfter mit feinen Attributen aufgefallen ist: Immer wieder blitzten da göttliche Momente auf, die eines Wotans durchaus würdig waren. Majestätisch anmutig und mit beinahe schon lyrischer Schönheit drangen da immer wieder seine Kundgebungen bis unter das Dach des Hauses vor. Nicht erst als Brünnhildes Bann besiegelt und der Feuerkreis gelegt war. Bereits in den beiden ersten Aufzügen funkelten da regelmäßig würdige Momente, die das Potenzial der Stimme zumindest erahnen ließen.
In Summe natürlich etwas wenig. Die Sorge einiger, Lundgren könnte den Bayreuther Wotan in den Sand setzen, teile ich aber nicht. Das hat zwei Gründe.
Wien ist nicht Bayreuth
Erstens hat Lundgren bewiesen, dass er durchaus imstande ist, sich zu steigern. Fachkundige Stehplatzler haben bekräftigt, dass dieser Wotan während des ersten Zyklus nur knapp am Totalausfall vorbeigeschrammt ist. Davon war dieser Gott während des zweiten Zyklus meilenweit entfernt. Dazu sei erwähnt: In Wien durften wir zwei „Ring“- Zyklen verfolgen. Den ersten kompletten Zyklus von 4. Mai bis 19. Mai. Die Reprise von 21. Mai bis 29. Mai.
Zweitens ist Bayreuth nicht Wien. Der „mystische Abgrund“, wie man den Graben im Bayreuther Festspielhaus nennt, nicht vergleichbar mit dem in der Wiener Staatsoper. Da sind einfach andere Tugenden gefragt.
Die größte Herausforderung stellt das Wiener Staatsopernorchester. An guten Tagen ein Organismus, der intensiver und berauschender miteinander atmet, als fast jedes andere Spitzenorchester. An außergewöhnlichen Tagen ein Gigant, der gar imstande ist, Berge zu versetzen. Nichts anderem kommt es nämlich gleich, an der Wiener Staatsoper den „Ring“ auf die Beine zu stellen. Der Grund ist schnell erklärt: Orchesterproben. Die sind im „ersten Haus am Ring“ wie weißer Trüffel. Es gibt sie kaum.
Das wirkt doppelt schwer. Kaum ein Orchestergraben ragt derart hoch aus dem Boden wie der in der Wiener Staatsoper. Das hat zur Folge, dass die orchestralen Wogen enorm dominieren und überlaufen können – trotz arrivierter Kräfte am Pult. Bei einem 120-Mann-Orchester wie bei Richard Wagner oder Richard Strauss, wo acht Hörner und noch weiteres massives Blech punktuell aus allen Rohren donnern, nicht immer eine leise Angelegenheit.
Dass damit auch schon ganz andere Kaliber ihre Probleme hatten, stellt Lundgrens Leistung zumindest in ein weniger trübes Licht. Selbst Lise Davidsen, eine stimmliche Naturgewalt vor dem Herren, hat da noch so ihre Mühen. Wenn auch ganz anders als Lundgren. Dem blieb bei so viel orchestralem Überschwang oft kaum Luft zum Atmen. Bei Davidsen hingegen das komplett konträre Bild.
Zu viel Kraft kann kontraproduktiv sein
Als Sieglinde, die einer Wucht glich, strahlte ihr dunkel timbrierter Sopran natürlich in allen Lagen souverän. „Auch die Piani offenbaren unendlich schöne Klangfarben“, wie Andreas Schmidt schreibt. Dass es allerdings eine gewisse Zeit gedauert hat, bis Davidsen ihre enormen Kräfte perfekt an das Haus und das Orchester angleichen konnte, sollte nicht unerwähnt bleiben. „Kann gut sein, dass sie anfangs ein wenig übermotiviert war“, vermutet da ein Fachkundiger. Dabei hätte die junge Norwegerin es gar nicht nötig, derart stark zu forcieren, um sich im weltberühmten Staatsopernoval Gehör zu verschaffen.
Mit dieser gewaltigen Stimme heißt es eher zurückhaltend zu agieren, dosieren und fein nivellieren, selbst an der Wiener Staatsoper, sogar bei Wagner. Dabei soll es vor der Walküre sogar eine Orchesterprobe gegeben haben. Das ist mir zumindest zu Ohren gekommen. In Summe natürlich noch immer weniger als andernorts üblich.
Das hat organisatorische Ursachen: Kein Opernhaus dieser Welt bietet eine derart große Bandbreite an Aufführungen. An 300 Tagen im Jahr spielt man rund 60 Opern und Ballettwerke, jeden Tag eine andere. Dass man bei dieser Mammutaufgabe kaum Platz für Orchesterproben einräumen kann, erklärt sich wohl von selbst.
Daran muss man sich in Wien erst gewöhnen. „Es dauert schon ein wenig, denke ich“, ließ Davidsen im Staatsopernmagazin auf die Frage wissen, wie lange der Prozess dauere, bis sie sich in einem Haus heimisch fühle. „Zum Beispiel finden an der Staatsoper manche Proben im Haus, andere in der externen Probebühne im Arsenal statt.“ Alles Punkte, die gewöhnungsbedürftig sind. An ihr Haus-Debüt erinnert sich Davidsen noch gut. „Es war meine erste größere Rolle in einem Haus mit Repertoire-System, also eher wenig Proben und bald auf die Bühne.“ An der Wiener Staatsoper hat der Shootingstar 2017 in Ariadne auf Naxos debütiert. An der Seite von Jonas Kaufmann folgte diese Saison Benjamin Brittens „Peter Grimes“. Die Sieglinde in Richard Wagners „Walküre“ ist nun ihre dritte Partie gewesen.
In Bayreuth weht ein anderer Wind
In Bayreuth dürften fehlende Proben keine Hürde sein. Dort probt man, bis der Arzt kommt. Täglich zwei Runden. Eine ausgiebige Session am Vormittag, eine zweite am Nachmittag. Montag bis Sonntag – die ganze Woche also durch. Noch dazu nur eine oder zwei Handvoll Werke. Alles dem Meister zuliebe, denn in Bayreuth gibt es nur einen König und der heißt Richard Wagner.
Das und der Umstand, dass den Bayreuther Orchestergraben ein Deckel dämpft, spielt John Lundgren mit Sicherheit in die Karten. Womit er in Wien bei Leibeskräften zu ringen hatte, serviert man ihm im Festspielhaus sozusagen auf dem Silbertablett: Einen reduzierten orchestralen Teppich, der selbst bei Vollgas niemals durch die Decke schießt. Deshalb denke ich, in Bayreuth wird Lundgren einen deutlich besseren Eindruck hinterlassen als in Wien.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 5. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
Kurz: Herr Lundgren war nicht direkt schlecht, liess sich ja in der Walküre indisponiert entschuldigen, er war auf wienerisch gesagt ganz einfach fad. Schade. Wünsch ihm viel Glück in Bayreuth !
Ernestine Lettner
und heute, 10.6.2022, hat John Lundgren seine mitwirkung im bayreuther ring abgesagt.