Pathys Stehplatz (16) – Philippe Jordans vermeintlicher Zwist mit den Wiener Philharmonikern: Beim „Rosenkavalier" ist davon nichts zu spüren

Pathys Stehplatz (16) – Philippe Jordans vermeintlicher Zwist mit den Wiener Philharmonikern: Beim „Rosenkavalier“ ist davon nichts zu spüren

Foto: Philippe Jordan © Johannes Ifkovits

von Jürgen Pathy

Zu meiner Schande, ich gebe es zu: Ich hab den „Rosenkavalier“ noch nie zuvor gesehen. Der Grund ist ganz einfach – weil die „Salome“ oder eine „Elektra“ eher meinen Geschmack zu treffen scheinen. Ein Irrtum, wie sich nun herausstellen sollte. An der Wiener Staatsoper hat ein Staraufgebot für volle Reihen gesorgt. Meister im Graben: Philippe Jordan, der, seitdem er angezählt ist, das Publikum mit absoluter Mehrheit hinter sich zu scharen weiß. 2025 verlässt Jordan die Wiener Staatsoper. Sein Vertrag als Musikdirektor wurde nicht verlängert.

Opernherz – was willst du mehr?

Keine Ahnung, warum das Vorurteil grassiert, der Rosenkavalier, der sei so total anders. „Nicht meine Oper“, verzieht der ein oder andere Operngänger sein Gesicht. Die „Salome“ oder die „Elektra“, das seien die Krönungen der Schöpfung. Da habe Richard Strauss bewiesen, was er so kann. Mit dem „Rosenkavalier“ hingegen, mit dem könne man nichts anfangen. Ein schmieriges Sujet, lauwarme Musik und viel zu wenig Innovatives. Diesem Klischee habe ich mich auch lange gebeugt – viel zu lange.

Zum Glück wohne ich in Wien. Der Weg in die Wiener Staatsoper ist kurz. Mit den „Öffis“, so nennt man hier liebevoll die öffentlichen Verkehrsmittel, dauert meine Anreise gerade einmal um die 20 Minuten. Ein Umstand, der mir viele Freiheiten verschafft: Selbst, wenn ich es ein mal verschlafen sollte – so wie an diesem Tag – , dass in einer Stunde die größten Namen auf der Bühne stehen werden, ist ein spontaner Besuch überhaupt kein Problem.

Juan Diego Flórez © Manfred Baumann

Ein zufälliger Blick auf die Homepage des Hauses verheißt nämlich Großes: Günther Groissböck als Ochs – bestimmt seine Paraderolle –, Krassimira Stoyanova als Marschallin und Kate Lindsey als Octavian. Dazu noch KS Adrian Eröd als Faninal.

Und als wäre das nicht schon mehr als genug, oben drauf noch ein Sahnehäubchen: Startenor Juan Diego Flórez als „italienischer Tenor“. Eine Minirolle, in die man den erfolgsverwöhnten Peruaner sonst nur selten quetschen könnte. Zum Glück laufen nebenher gerade die Proben zu Donizettis „Regimentstochter“, wo Flórez vermutlich die acht oder neun hintereinander folgenden hohen Cs mit Leichtigkeit hinausschmettern wird. „Die Gage wird wohl auch ein Grund gewesen sein“, lästert man so nebenbei.

Alt aber gut: Regietheater versus Altmeister

Voll ist das Haus. An der Stehplatzkasse drängen sich Touristen. „Ob sich das noch ausgehen wird“, steigen in mir kurz einige Zweifel hoch. Rund 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn. Überwiegend junges Publikum ist es, aus dem asiatischen Raum. Zum Glück dann keine langwierigen Diskussionen, welcher Platz der bessere sei: Galerie, Balkon oder Parkett. Letzteres ist sowieso schon ausverkauft, wie ein Kärtchen oberhalb der Kassa signalisiert. Altmodisch noch per Hand hineingeschoben, von einem Nachwuchskassier, den der Alteingesessene anscheinend gerade einschult. Das ist eben Wien.

Auf der Bühne zeigt man dann auch Altbewährtes. Nachdem ich es gerade noch so in den Saal schaffe – die ersten Glocken hetzen mich die Stiegen hoch –: Otto Schenks Inszenierung aus dem Jahr 1968. Ganze 405 Vorstellungen hat die bereits am Buckel. Die liefert wohl wenig Zündstoff, um über das „dahinsiechende Regietheater“ zu diskutieren. Mit dieser Kritik war Philippe Jordan erst vor wenigen Wochen an die Öffentlichkeit getreten. Seitdem ist er angezählt. Seinen Vertrag als Musikdirektor habe er nicht verlängert. Weil die Oper in puncto Regie auf einem „fatalen Irrweg“ sei, wie Jordan die Entscheidung begründete.

Bogdan Roščić © Lalo Jodlbauer

Alles ganz anders, konterte Direktor Bogdan Roščić damals noch am selben Abend. Man sei sich schon im Sommer einig gewesen wegen der Planung der Wiener Staatsoper über 2025 hinaus. Bedenken bezüglich der Regie habe es da nicht gegeben. Allerdings sei es ihm aus „anderen Gründen“ nicht möglich gewesen, Jordans Vertrag zu verlängern.

Die Wiener Philharmoniker: Das Zünglein an der Waage

Genügend Nahrung also für die Gerüchtekücke. In der brodelt es auch gewaltig. Die Wiener Philharmoniker könnten das Zünglein an der Waage gewesen sein, weshalb man Jordans Vertrag nicht mehr verlängern werde. Eine Spekulation, die durchaus auf Resonanz trifft. Offizielle Stellungnahme von den Wiener Philharmonikern gibt es diesbezüglich keine. Die hüllen sich in Schweigen. Insider halten das aber durchaus für möglich. Möchte man kaum glauben, betrachtet man die Harmonie, die in letzter Zeit im Graben herrscht. Auch so an diesem Abend.

Obwohl die Dynamiken nicht ganz ausgewogen scheinen, das große Bild vermittelt Jordan par excellence. Den Ochs, den konnte ich die ersten 40 Minuten halt kaum hören. An Günther Groissböck kann es ja nicht gelegen haben. Der ist doch nicht nur mit einer stattlichen Figur gesegnet, sondern auch noch mit einem äußerst imposanten Organ.

Foto: G. Groissböck, © Wilfried Hösl

Dass das alles nur meinem Platz geschuldet sein soll, wollte ich zuerst nicht ganz glauben. Stehplatz-Galerie auf der Seite links, fast schon direkt über dem Orchestergraben. Ein Platz, der viele Optionen bietet: Blick in den Orchestergraben, in Jordans Gesicht und in die der vielen Musiker. Die Sicht auf die Bühne hingegen ist etwas eingeschränkt. Eben nicht ideal, wie ein Herr mir weismachen will, den ich mal zufällig auf einer Zugfahrt von Salzburg nach Wien kennenlernen durfte. Von den Salzburger Festspielen natürlich, wie könnte es anders sein.

Seinen Platz nehme ich dann ein. Nachdem er sich kurz vor dem dritten Akt verabschiedet, weil ihm das alles zu lang sei. Nur um mich zu vergewissern, ob er recht hat oder nicht. Er habe nämlich nichts davon bemerkt, dass Jordan die Sänger zudecken würde. Dennoch könne er den Rest nicht durchhalten, nicht im Sitzen und nicht im Stehen. Den dritten Akt, den werde er ganz einfach am Montag nachholen. Auch eine Möglichkeit, die man in Wien ja kostengünstig in Anspruch nehmen kann. 4 Euro mit Bundestheaterkarte. So viel kostet eine Stehplatzkarte auf der Galerie. Ein Geschenk.

Stehplatz ist nicht Stehplatz: Die Perspektive macht den Unterschied

Das Bild, das sich mir nun bietet – völlig konträr. Nicht nur Optisch: Galerie Mitte, über der Kaiserloge, mit perfekter Übersicht auf Bühne und Graben, ausgewogene Akustik inklusive. Jordan sehe ich halt nur von hinten. Auch akustisch: Plötzlich scheint alles fein verwoben. „Vielleicht ist das einfach nur der Musik geschuldet“, zweifle ich noch immer an Jordans Tagesform, die Lautstärke perfekt zu balancieren. Dass der öfters mit den Dezibel zu kämpfen hat, darüber herrscht auch Einigkeit im Foyer. „Ab und zu ist das Orchester einfach zu laut“, versucht ein Herr seinem Unmut etwas Luft zu verschaffen.

Foto: Stehplatz-Parterre der Wiener Staatsoper © Michael Michaelis

Ist allerdings nicht immer so: Bei „Don Giovanni“ wäre mir da nichts aufgefallen. Im September, da hatte Jordan sich von seiner besten Seite gezeigt. Beim „Parsifal“ genauso wenig. Der war orchestral einfach nur ein Traum. Bei den „Meistersingern“ hingegen, da haperte es schon ein wenig an manchen Ecken und Enden. Im dritten Akt des Rosenkavaliers wirkt nun wieder alles perfekt balanciert. Der eröffnet musikalisch aber auch ganz andere Türen.

Waren im ersten und im zweiten Akt noch ruppigere Töne, für Richard Strauss auch typische Dissonanzen zu vernehmen, streicheln mich urplötzlich die herrlichsten Harmonien. Sanfter Wiener Walzer schwebt nun durch das Haus. Mal dezenter, dann wieder etwas heftiger. Mal aus dem Orchestergraben, mal von der Bühne, wo sich die Musiker des Bühnenorchesters und die berühmten Spezis aus dem Graben den Ball hin- und herspielen. Eine gefühlte Ewigkeit.

Krassimira Stoyanova: Das Alter scheint nur eine Zahl

Die Zeit, die ist ja auch ein sonderbar Ding, wie uns die Marschallin im ersten Akt erzählt. An Krassimira Stoyanova scheint die auch spurlos vorbeigezogen zu sein. Noch immer derselbe Glanz in der Stimme, noch immer jede Zeile ausnahmslos zu verstehen. Genauso hinreißend, wie im Gebet der Desdemona, das sie vor wenigen Jahren an selber Stelle noch zärtlich in den Saal gehaucht hat.

„Wie macht die Frau das nur?“, stelle ich auch anderen die Frage. Nun ja, sie habe mittlerweile auch schon ihren Zenit überschritten – mit 60 für eine Sopranistin auch kein Wunder – aber noch sei wenig davon zu spüren. Eine Göttin in ihrer Liga, in ihrer Generation. Neben Adrianne Pieczonka sicherlich eine der Besten in ihrem Fach!

Foto: Krassimira Stoyanova © Brescia e Amisano / Teatro alla Scala

Wie auch das Staatsopernorchester. Der Wiener Walzer, der liegt ihnen halt im Blut. Den haben sie schon mit der Muttermilch aufgesaugt und seit Generationen in ihrer DNA verankert. Den macht ihnen so schnell eben keiner nach. Genug Entzückung, um mir wieder klar zu werden: Das ist meine Stadt. So stelle ich mir das vor! Hamburg, München: schön und gut – Wien bleibt aber Wien. Noch immer der Maßstab, an dem man sich musikalisch zu orientieren hat.

Jordan hat es im dritten Akt auch faustdick hinter den Ohren. Fast schon liebevoll, wie er und das Staatsopernorchester da verschmelzen. Würde ich es nicht besser wissen, wähnte ich mich schon beim Neujahrskonzert. Hab ich zwar noch niemals live erlebt, aber wer weiß: Vielleicht gibt’s auch da irgendwann mal Karten. Den Rosenkavalier hatte ich bislang ja auch gemieden. Das Neujahrskonzert aus ähnlichen Gründen ebenso.

Benötigt die Wiener Staatsoper überhaupt einen Musikdirektor?

Ob Philippe Jordan das Neujahrskonzert jemals leiten wird, ist erstmals aber mehr als nur fragwürdig. Bedenkt man die Gerüchte, dann vermutlich eher nicht. Beobachtet man das Gespann im Graben, scheint es so, als sei da nie etwas vorgefallen. Vielleicht liegt es einfach nur in der Natur der Sache. Noch nie in ihrer langen Geschichte haben die Wiener Philharmoniker einen Chefdirigenten bestellt. Seit seiner Gründung 1842 agiert das weltberühmte Orchester autonom.

Wer da denkt, man könnte ihnen an der Wiener Staatsoper einen vor die Nase setzen, der hat sich wohl schwer getäuscht. Will Roščić nach Jordans Abgang 2025 auch nicht mehr. Gute Entscheidung – benötigt es auch keinen. Die vorhergehenden Versuche sind teilweise auch gescheitert.

Foto: Orchester der Wiener Staatsoper © Michael Pöhn

Franz Welser-Möst verließ das Haus 2014 vorzeitig im Streit. Von Claudio Abbado, dem ersten Musikdirektor, finde ich im Netz nichts Verwertbares. Nach einer Direktion war bei ihm 1991 aber auch Schluss. Nur Seiji Ozawa schaffte es länger. Ganze acht Jahre lang zog der Japaner die Fäden als Musikdirektor an der Wiener Staatsoper, wo zwar formell nicht die Wiener Philharmoniker spielen, sondern das Staatsopernorchester.

In der Realität sind die Übergänge aber fließend: Aus dem Staatsopernorchester rekrutieren sich die Wiener Philharmoniker. Wer mindestens drei Jahre im Graben der Wiener Staatsoper überzeugen kann, der dürfte ab dann auch bei den Wiener Philharmonikern zaubern. Natürlich nur auf Anfrage. Die Aufnahme scheint dann reine Formsache.

Zieht Philippe Jordan das durch?

Seit September 2020 ist Philippe Jordan nun Musikdirektor der Wiener Staatsoper. Nach nur zwei Jahren hängt der Haussegen aber bereits schief. Wie eine fruchtbare Zusammenarbeit unter diesen Bedingungen noch bis Ende der Saison 2024/25 funktionieren soll, die Frage stellen sich sicherlich auch andere Leute. „Er hat es versprochen“, zeigt sich der Herr aus dem Zug ganz optimistisch. Für ORF-Kritiker Heinz Sichrovsky hingegen war schon im Oktober klar: Jordan solle gleich die Segel streichen.

Für mich wird es spannend: Schafft Jordan es weiterhin, das Publikum so deutlich hinter sich zu vereinen, könnte er den Rückenwind durchaus nutzen.

Ich respektiere Philippe Jordan. Dafür, dass er sich mit der Zeit hat deutlich mausern können. Von einer unterkühlten „Madama Butterfly“ zu Beginn seines Engagements, über einen mehr als nur respektablen „Parsifal“ dazwischen, bis hin zu einem fulminanten „Don Giovanni“ noch vor kurzem. Ebenso dafür, dass er sich von all den Nebengeräuschen bislang nicht hat aus der Bahn werfen lassen. Dass er es allerdings bis zum Ende durchzieht – interessant wäre es, glauben tu ich es nicht wirklich.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 26. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

Pathys Stehplatz (7) – ein Brief an Philippe Jordan: „Bitte mehr davon!“ Wiener Staatsoper

Pathys Stehplatz(10): Gioachino Rossini, Il barbiere di Siviglia, Wiener Staatsoper, 04. Oktober 2021

Pathys Stehplatz (11) – Der Typus des Konzertbesuchers klassik-begeistert.de

2 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (16) – Philippe Jordans vermeintlicher Zwist mit den Wiener Philharmonikern: Beim „Rosenkavalier“ ist davon nichts zu spüren“

  1. Lieber Kollege Pathy!
    Interessant ist, wie sich Hugo von Hofmannsthal zu Richard Strauss über seine musikalischen Vorstellungen im „Rosenkavalier“ geäußert hat. Die Stimme soll sich dem im Orchester zentrierten Leben einflechten, auftauchend und untertauchend, aber nie ganz souverän.
    Das soll aber gewiss kein Freibrief für ein zu lautes Orchester sein.
    Mit freundlichen Grüßen

    Lothar Schweitzer

    1. Lieber Herr Schweitzer,

      vielen Dank für diesen erkenntnisreichen Hinweis. Ein Freund hat mir schon empfohlen, ich möge doch den gut aufbereiteten Briefwechsel zwischen Richard Strauss und Hofmannsthal nachlesen. Bislang habe ich das noch nicht geschafft. Überwiegend wegen der Zeit, aber auch wegen anderer Interessen: Beethoven, Mozart und Richard Wagner. Vielleicht werde ich mir diesen Ratschlag nochmals zu Herzen nehmen und zumindest etwas in diese Lektüre hineinschnuppern…

      Liebe Grüße
      Jürgen Pathy

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