Foto: Siberia ©️ Thilo Beu
Am 19. Dezember 1903 wurde die Oper “Siberia” von Umberto Giordano an der Mailänder Scala uraufgeführt, anstelle der “Madama Butterfly” von Giacomo Puccini, der seine Oper nicht rechtzeitig für dieses Datum fertig komponieren konnte. Im Gegensatz zu Puccinis Oper, die einige Monate später bei ihrer Erstaufführung ein Debakel erlitt, erlebte die Komposition von Giordano einen großen Erfolg. Trotz anfänglichen Erfolgen an einigen bedeutenden Opernhäuser, konnte sich Giordanos Oper jedoch nicht im geläufigen Opernrepertoire etablieren. Das Theater Bonn zeigt jetzt “Siberia” in einer Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen, wo die Inszenierung von Vasily Barkhatov 2022 gezeigt wurde.
Umberto Giordano SIBERIA
Tragödie in drei Akten (Libretto von Luigi Illica)
Daniel Johannes Mayr, Dirigent
Vasily Barkhatov, Inszenierung
Asim Brkic, Bühne
Nicole von Graevenitz, Kostüme
Beethoven Orchester Bonn
Chor und Extrachor des Theater Bonn
Stephana Yannick-Muriel Noah
Vassili George Oniani
Gleby Giorgos Kanaris
La fanciulla / Die alte Frau Clarry Bartha
Theater Bonn, Opernhaus, 12. März 2023 PREMIERE
von Jean-Nico Schambourg
Um es gleich vorwegzunehmen: diese Aufführung hat mich begeistert sowohl musikalisch als auch szenisch!
Kurz zur Geschichte: Stephana, die Kurtisane, gibt ihr Luxusleben auf, um ihrem Geliebten Vassili, einem einfachen Soldaten, nach Sibirien zu folgen. Dieser wird dorthin verbannt, weil er den Fürsten Alexis, der Stephana begehrt, im Kampfe verletzt hat. In der Strafanstalt in den Transbaikal-Minen treffen die beiden Liebenden auf Gleby, den früheren Kuppler von Stephana. Dieser will seine Ex-Protégée zur Flucht überreden. Stephana lehnt ab. Stattdessen versucht sie mit Vassili zu flüchten. Die beiden Liebenden werden jedoch entdeckt und Stephana auf der Flucht tödlich verletzt.
Ich bin normalerweise kein Freund von Eingriffen des Regisseurs in die Handlung der Oper mittels Erfindung neuer Rahmenhandlung oder neuer Figuren. Die Darstellung von Vasily Barkhatov ist jedoch total schlüssig und gibt der Oper eine noch größere Emotionalität.
Er erfindet die Geschichte einer älteren Dame, die sich von Rom aus nach Sankt Petersburg, und später nach Sibirien, begibt, auf den Spuren ihrer Eltern. Sie ist die, von Barkhatov frei erfundene, Tochter der beiden Hauptfiguren der Oper. In einer Urne trägt sie die Asche ihres jüngeren Bruders mit sich. Auch dieser kommt im Libretto von Luigi Illica nicht vor.
Der Zuschauer kann die Reise der älteren Dame, dargestellt von Clarry Bartha, die auch einige gesangliche Phrasen der Stephana übernimmt, teils mittels Filmeinblendungen, teils mittels ihrer Präsenz an den Schauplätzen des Lebens ihrer Eltern verfolgen. Die Emotionalität der Operngeschichte wird durch ihre Präsenz noch um ein Vielfaches gesteigert. Es ist sehr ergreifend zu sehen, wie die Tochter den Leidens- und auch Liebesweg ihrer Eltern nacherlebt. Am Schluss der Oper verstreut sie die Asche ihres Bruders an der Stelle, wo ihre Mutter verstorben ist.
Der Übergang zwischen den Szenen ist fließend, dank auch eines wunderbar konzipiertem Bühnenbildes, das die zeitlichen Sprünge zwischen dem Heute und dem Damals zu jedem Moment ermöglicht. So begleitet man zum Beispiel im zweiten Akt die ältere Dame in ein Archiv des russischen Gulags. Die riesige Bibliothek öffnet sich und gibt einen Ausblick auf die öde, kalte Eislandschaft Sibiriens, wohin Stephana und Vassili verbannt werden. Ein großartiges Bild!
Die Musik von Giordano ist sehr emotional, ohne kitschig zu wirken. Man erspürt hier einen Komponisten, der seinen Gefühlen beim Komponieren freien Lauf gelassen hat und diese dann in wunderbare Musik umgesetzt hat. Im Foyer hörte ich, wie ein Zuschauer zu seiner Gattin sagte: “Solch wunderschöne Musik passt eigentlich nicht zu einer Handlung, die sich in dem brutalen Gulag abspielt.” Er hat Recht! Aber wie schön erklingt in unseren Ohren dieses Leiden.
Giordano verwendet auch einige Motiven aus der russischen und ukrainischen Musikwelt. Diese sind jedoch nicht rein populistisch eingesetzt, sondern beschreiben gezielt die Stimmung der jeweiligen Szene. So zeichnen die Andeutungen an das berühmte Lied der Wolgaschlepper immer wieder die schwierigen Lebenssituationen, die die beiden Hauptfiguren durchleben müssen. Im dritten Akt schafft es der Komponist in wenigen Phrasen das orthodoxe Osterfest durch den Chor anklingen zu lassen. Er zeichnet hier das Fest der Erlösung, das jedoch nicht für Stephana zutrifft. Es sei denn, man betrachtet ihren Tod als Erlösung von all ihrem Leiden.
Yannick-Muriel Noah singt eine ergreifende Stephana. Mit ihrer warmen Stimme zeichnet sie die unendliche Liebe der Stephana, die der Liebe wegen alles aufgibt. Stimmlich zeigt ihr Rollenportrait eine Frau, die alles dransetzt, in einer ihr feindlichen Welt ihr Leben zu bestimmen: den Mut ihr Luxusleben zu verlassen, die Ekstase der Liebe zu Vassili, die Kraft sich gegen Gleby und dessen hinterlistigen Absichten zu wehren. All diese Emotionen werden von ihr gesanglich mit viel Stimmpotential gemeistert, ohne dass sie jemals forcieren muss.
Was verlangt man von einem Tenor in einer Verismo-Oper? Stimme, Stimme, Stimme! Und davon hat George Oniani eine ganze Menge. Er setzt sowohl Vassilis Liebesglut im ersten Akt, als auch später seine Verzweiflung über das eigene Schicksal und das seiner Geliebten perfekt um. Auch in den lyrischen Momenten hat er das richtige Gespür für Giordanos schwelgerische Melodien.
Giorgos Kanaris setzt seinen Bariton gut ein, um den fiesen Charakter von Gleby, dem Kuppler, Konturen zu geben. Im ersten Akt singt er zuerst schmeichelnd seine Serenade “O bella mia” , um danach bedrohend auf Stephana einzuwirken, Fürst Alexis zu unterhalten. Im letzten Akt steigert Kanaris stimmlich diese Bedrohung, um Gleby als schmutzigen Zuhälter zu entlarven. Auch alle kleineren Rollen verdienen großes Lob.
Daniel Johannes Mayr lässt das Orchester der Beethovenhalle Bonn in bester Verismo-Manier schwelgen. Giordanos Musik erklingt mit üppigem Klang, überdeckt dabei aber nie die Sänger.
Chor und Extrachor des Theater Bonn runden diesen Abend ab mit präzisem Chorgesang, der das russische Lokalkolorit eindrucksvoll wiedergibt.
Die Musik von Giordano und deren großartige musikalische Interpretation, sowie die Erzählungsweise der Tragödie durch Barkhatov, bescherten mir an diesem Abend manchen Gänsehaut-Moment und trieben mir einige Tränen in die Augen. Das Publikum spendete begeisterten Applaus für Sänger, Dirigent, Chor und Orchester, sowie für das gesamte Regieteam.
Jean-Nico Schambourg, 13. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Umberto Giordano, Fedora MET-Übertragung in der Lübecker Stadthalle am 14. Januar 2023
DVD-Rezension: Umberto Giordano, SIBERIA, klassik-begeistert.de
DVD-Rezension: Umberto Giordano, Andrea Chénier, Teatro alla Scala 2017