Lieder, die persönliche Geschichten erzählen

Interview mit Na’ama Goldman von Birgit Koß  klassik-begeistert.de, 18. März 2023

Interview mit Na’ama Goldman zum Release ihrer ersten CD „Legata“ von Birgit Koß

Die charismatische und ausdrucksstarke Mezzosopranistin Na’ama Goldman ist auf den Opernbühnen Israels und Europas zu Hause. Nun veröffentlicht sie ihre erste CD mit Liedern in Begleitung des italienischen Pianisten Giulio Zappa. Na’ama Goldman ist in der Nähe von Tel Aviv geboren. Seit Corona hat sie ihren Lebensmittelpunkt in Berlin, wo sie im Piano Salon Christophori ihre erste CD „Legata“ der Öffentlichkeit präsentiert.

klassik-begeistert: Liebe Na’ama, wenn Sie auf der Opernbühne stehen, sind Sie ja nicht nur Sängerin, sondern auch zugleich Schauspielerin, was bedeutet das für Sie?

Na’ama Goldman: Ich liebe diese beiden Rollen absolut, das ist es, was mich an der Oper so fasziniert. Ursprünglich war ich Pianistin. Mein Abitur in Israel habe ich in einer speziellen Musikklasse in Solopiano und Komposition gemacht, also war ich gar keine Sängerin. Aber dann entdeckte ich etwas später das Singen und besonders die Schauspielerei dabei hat mich sehr angezogen. Es ist wunderbar, dass man dabei eine Geschichte erzählen und mit dem Publikum kommunizieren kann und zwar nicht nur durch die Musik. Aber ich ahne, wo Ihre Frage hinzielen will. Für mich geschieht das nicht nur in der Oper, sondern auch in Konzerten und bei Liederabenden. Selbst wenn es „nur“ ein Lied ist, gibt es einen Text, der mit der Musik harmoniert. Da gibt es eine Geschichte oder eine Botschaft, und das muss man herausarbeiten und dem Publikum nahebringen. Der Text hat eine große Bedeutung, die die Musik in der Art, wie sie komponiert ist, schon transportiert, aber als Interpretin habe ich die Möglichkeit, ja sogar die Verantwortung, dies zu interpretieren – das ist für mich sehr wichtig.

klassik-begeistert: Opernarien oder Lieder zu singen macht doch sicherlich einen Unterschied. Habe sie dafür unterschiedliche Stimmfärbungen?

Na’ama Goldman: Ja und Nein. Man hat auf der Opernbühne eine größere Distanz zum Publikum, das wirkt sich auf die Stimme aus und auch die Darstellungsform ist dort viel größer. Man bewegt sich auf so einer Bühne anders. Im Konzert, was ich auch sehr liebe, ist alles viel intimer. Die Grundlage der Stimmtechnik ist gleich, aber ich kann sie im Konzert etwas verändern, weil das Publikum näher ist. So kann ich verschiedene Farben und – sagen wir mal – Lautstärken einsetzten. Auch die emotionale Kommunikation ist dichter, man kann auf große Gesten verzichten und mehr mit dem Gesichtsausdruck und den Augen kommunizieren. Es ist gewissermaßen eine andere Sprache.

klassik-begeistert: Na’ama, Sie bringen jetzt mit den Liedern Ihre erste CD auf den Markt, ist das für Sie ein ganz neues Projekt?

Na’ama Goldman: Es ist meine allererste CD und das ist sehr aufregend für mich. Doch ich habe Liederabende schon weltweit aufgeführt. Die Oper ist nach wie vor mein Hauptgebiet, aber ich habe schon viele Solokonzerte und Liederabende in unterschiedlichen Sprachen gegeben, so in Französisch, außerdem singe ich auch auf Tschechisch, Russisch, Hebräisch und sehr häufig auf Italienisch. Natürlich hat jede Kultur ihre eigene Tradition, wenn man das Kunstlied betrachtet. Dies hat man zu respektieren. Ich liebe diese Art zu singen, es schafft eine völlig neue musikalische Welt. Vielleicht war es etwas kühn, als erstes eine CD mit Liedern aufzunehmen, anstelle von Opernarien. Aber ich habe eine spezifische Botschaft mit diesen Liedern, die ich weitergeben möchte.

klassik-begeistert: Dann lassen Sie uns über diese Botschaft sprechen.

Na’ama Goldman: Das ist eine eigene Geschichte. Vor einigen Jahren wurde ich zusammen mit dem Pianisten Giulio Zappa in Mailand eingeladen, ein spezielles Programm zu entwickeln und auf dem internationalen Holocaust-Gedenktag aufzuführen. Wir wussten, dass wir etwas Außergewöhnliches tun wollten. Natürlich musste die Musik mit dem Judentum verbunden sein, aber wir wollten nicht „jüdisch“ sein – verstehen Sie? Wir recherchierten in Bibliotheken, Menschen unterstützen uns in Archiven und wir schauten nach jüdischen Komponisten wie Mahler, Korngold, Kurt Weill. Sie waren Juden, haben aber keine „jüdische Musik“ komponiert. Ihre Musik repräsentierte, wer und was sie waren – Deutsche, Österreicher. Sie lebten in einer bestimmten Zeit und komponierten, was ihre Inspiration und Kreativität ihnen eingab. Aber natürlich hatten ihre jüdische Tradition und ihre Familien auch einen Einfluss auf ihre Musik. Von ihnen kamen wir zu Ravel mit seinen „Deux mélodies hébraïques“ also dem „Kaddisch“ und „L’énigme éternelle“. Er war kein Jude, aber von dieser Tradition angezogen. Es ist interessant zu erfahren, was jemand von außen sieht. Dann wandten wir uns der jüdischen Folklore zu, die kann man auch von einem soziologischen und anthropologischen Standpunkt aus betrachten und nicht nur religiös. Und schließlich schauten wir auch nach zeitgenössischen israelischen Komponisten wie Eyal Bat. Ich fühlte mich sehr geehrt, dass er mir Notenmaterial von ganz neu komponierten Stücken zusandte – wunderbare Songs.

Ebenso Sasha Argov, der ebenfalls in Israel sehr berühmt ist, vor dem Krieg geboren wurde und aus Russland stammte. Er kam in das neu gegründete Israel und war einer der Künstler, die eine neue Kultur für dieses neue Land schaffen wollten. Aber es ist nicht notwendigerweise jüdische oder israelische Musik, denn Menschen bringen immer das mit, was ihnen eigen ist. Natürlich haben Religion und Kultur einen großen Einfluss, aber letztendlich sind wir alle Menschen, dies wollte ich zeigen. Wir haben diese Programm einige Jahre aufgeführt und festgestellt: Die Kombination der Lieder entspricht wirklich nicht dem Standard von Liederabenden. Das Publikum liebte es sofort, war sehr berührt. So wurden wir immer wieder gebucht. Schließlich sagten wir uns, wir sollten es als CD aufnehmen – und jetzt war der richtige Zeitpunkt dafür.

klassik-begeistert: Als Sie Ihre musikalischen Sprachen aufgezählt haben, ist mir aufgefallen: Es fehlte Deutsch. Dabei leben Sie bereits einige Zeit in Deutschland. Wahrscheinlich stellt Ihnen jeder Journalist diese Frage, aber warum sind Sie aus Israel nach Berlin gezogen?

Na’ama Goldman: Das ist eine sehr naheliegende Frage. Die väterliche Seite meiner Familie stammt aus Berlin, also ist mir die deutsche Kultur nicht fremd und die deutsche Sprache ist für meine Ohren ganz vertraut, weil meine Großeltern sie zu Hause gesprochen haben. Sie lebten in Berlin und wurden 1938 von den Nazis ins Exil gezwungen. Das war sozusagen ihr „Glück“. Es gelang ihnen schließlich, nach Israel zu kommen, und dadurch den zweiten Weltkrieg nicht in Europa mitzuerleben. Aber es war natürlich tragisch, sie hatten ihre Wurzeln hier gehabt, Geschäfte, ihre Familie, ihr Leben. Ich bin eher zufällig nach Deutschland gekommen. Zuerst lebte ich in Mailand – in Italien. Als meine Karriere immer internationaler wurde, war es ein natürlicher Schritt nach Europa zu ziehen. Aber dann war es aus bürokratischen Gründen einfacher, in Deutschland zu leben und Berlin ist eine sehr offene und entgegenkommende Stadt für freischaffende Künstler, mehr als jeder andere Ort in Europa und auch innerhalb Deutschlands. So bin ich hierhergekommen, da steckte keine Ideologie, kein großes Konzept dahinter. Ich habe es nicht erwartet, aber ich muss zugeben, am Anfang war es doch etwas hart. Als Künstlerin fühle ich mich als Weltbürgerin, nirgends zugehörig und weltoffen, aber als ich hierherzog, kam die Frage meiner Familiengeschichte auf und schlug sich dann auch im Programm der CD nieder. Die Auswahl der Lieder ist auf der einen Seite eine intellektuelle, aber im Endeffekt sind es doch die Lieder, die mich direkt  persönlich ansprechen: als Frau mit einem jüdischen Hintergrund, als Israeli, die nach Deutschland gekommen ist. Man könnte sagen: Die Auswahl ist eine Art musikalische Biografie geworden zwischen Berlin und Tel Aviv.

klassik-begeistert: Singen sie auf der CD auch auf Deutsch?

Na’ama Goldman: Ich singe Deutsch, Jiddisch, Hebräisch und Aramäisch.

klassik-begeistert: Sie betonten bei der Auswahl der Lieder, dass sie eine Frau sind. Das Kaddisch wird ja normalerweise ausschließlich von Männern gesungen, aber sie singen es nun auf der CD.

Na’ama Goldman: Ja, das liebe ich. Heute gibt es sehr unterschiedliche Aspekte im Judentum, aber in der Orthodoxie ist es Frauen gänzlich verboten zu singen. Die Männer dürfen eine weibliche Stimme nicht singen hören. Aber besonders für das Kaddisch gilt: Es ist ein Gebet, das ausschließlich Männern vorbehalten ist. In der Geschichte gab es immer wieder Frauen, die das Kaddisch singen wollten, aber es nicht durften. Wir sprachen schon von der außenstehende Rolle von Ravel. Wir wissen es natürlich nicht, ob er dies wusste, als er sein Kaddisch komponierte. Ich habe versucht, dies zu recherchieren, aber leider nicht gefunden, ob es eine zufällige Entscheidung oder eine ideologische war. Ich fand es faszinierend, dass er es zum Beginn des 20. Jahrhunderts für eine Frauenstimme geschrieben hat. Heutzutage ist das für mich Frauenpower – ich singe die Worte des Gebets, ich singe sie bewusst als Frau. Das ist eine doppelte Rebellion, eine Art Statement und deshalb beginnt die CD auch mit diesem Stück.

klassik-begeistert: Welches Stück in diesem Programm ist ihr Lieblingsstück?

Na’ama Goldman: Dies ist eine harte Frage für mich, ich liebe wirklich jedes Stück. Aber ganz besonders ist für mich „Az haya la“ von Sasha Argov, weil es mich schon viele Jahre begleitet. Sasha Argov ist in Israel sehr berühmt. Er schreibt klassische Musik, aber seine Stücke sind in Israel genauso in der Popmusik angekommen, das heißt, es gibt klassische Sänger, die seine Stücke in ihrer Art singen, aber auch Popstars, die dieselben Stücke auf Popart singen. Das finde ich sehr faszinierend. Bei welchem anderen Komponisten auf der Welt gibt es das noch – vielleicht bei Kurt Weill. „Az haya la“ ist ein weniger bekanntes Stück von ihm, aber für mich eins seiner schönsten. Es ist ein Liebeslied an die Stadt Tel Aviv. Der Text ist von der Dichterin Lea Goldberg, die ich bewundere. Es hat mich auf meiner Karriere immer wieder begleitet. Eine anderes Stück ist das letzte auf der CD, ich nenne es „meinen Bonustrack“. Es heißt „Elei Tashuv“ von David Sonnenschein. Es hat eine wirklich lustige Geschichte. Meine Großmutter mütterlicherseits, die aus Usbekistan stammte, und ihre Schwester waren als  junge Frauen ganz berühmte Sängerinnen. Sie haben usbekische, jüdische Volksmusik gesungen, später auch Musik aus Israel. Sie kamen in den 30er-Jahren in das Land und sangen die ersten Lieder, die die israelische Kultur hervorbrachte. Es gibt noch alte Aufnahmen von ihnen im Radioarchiv – in der lokalen Community waren die beiden bekannt. Aber dann hatte meine Großmutter ein wirklich tragisches Schicksal. Sie „verlor“ ihre Stimme aus medizinischen Gründen, als sie in meinem Alter war. Ich habe niemals mit ihr darüber gesprochen, aber ich wusste, es war für sie ein fürchterlicher Verlust, denn davor hatte sie immer gesungen. Ich habe ihre wahre Stimme nie gehört, aber es gibt Geschichten über sie, dass sie eine unglaubliche Stimme hatte, die die Herzen bewegte, und dass sie eine große Bühnenpräsenz besaß. Mit diesen Legenden bin ich aufgewachsen. Doch nun zur Geschichte des Liedes. Als ihre Schwester starb, nur wenige Zeit vor meiner Großmutter, fand die Familie in ihren Sachen Noten für einen Song, was ja ganz normal ist, weil beide Sängerinnen waren. Aber dieser war für meine Großmutter komponiert worden und ihr auch als Liebeslied gewidmet. Dann sahen wir, dass der Komponist David Sonnenschein war – er ist in Israel nicht sehr berühmt – aber er war zu jener Zeit ein Geiger und Komponist und er war der Freund von der Schwester meiner Großmutter! Meine Großmutter hatte keine Ahnung, dass es dieses Lied gab. Was ihre Schwester gedacht hat, wussten wir nicht, weil wir die Noten erst nach ihrem Tod gefunden haben, und sie hat nie darüber gesprochen und sie niemandem gezeigt. Meine Großmutter war sehr erstaunt und sagte nur – aber er war doch ihr Freund. Ich habe dieses Notenblatt, es ist in einer wunderschönen Handschrift, sehr antik, und ich musste dieses Lied in mein Programm mit aufnehmen – mit dieser so persönlichen Geschichte.

klassik-begeistert: Was für ein schöner Abschluss auch für dieses Gespräch. Na’ama, haben Sie herzlichen Dank!

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