Foto: Tänzerinnen und Tänzer der Kamea Dance Company (Foto Dr. Ralf Wegner)
Klar wurde, dass der Choreograph vor allem den Aspekt der Liebe dargestellt wissen wollte, und zwar nicht nur die brüderliche, wie es der christlicher Interpretation entspricht, sondern auch die körperliche Liebe, auch unabhängig vom Geschlecht.
OsterTanzTage Hannover
Matthäus-Passion-2727
Kamea Dance Company
Gastspiel im Rahmen der OsterTanzTage 2023
Choreographie: Tamir Ginz
Opernhaus Hannover, 4. April 2023
von Dr. Ralf Wegner
Am Anfang zeigt die ansonsten leere Bühne ein sargähnlich aufgebauschtes, in der Mitte erhobenes Tuch, unter dem sich ein hochgewachsener, schlanker, ganz unbekleideter Tänzer hervorwindet, sich erhebt und wie der auferstandene Jesus von zwei schwarzgewandeten Tänzern in Kreuzeshaltung fortgetragen wird. Bachs Matthäuspassion beginnt also nicht mit Jesus’ Ankündigung vom eigenen Kreuzestod und dem letzten Abendmahl wie bei Bach, sondern mit der fast am Ende stehenden Geschichte des reichen Mannes von Arimathia, der bei Pilatus um den Leichnam Jesu bittet.
Es handelt sich bei dieser Choreographie nicht nur um eine gemischte Abfolge der einzelnen Nummern des Bach’schen Werkes, sondern auch um eine starke Kürzung auf eine zudem noch durch längere musikfreie Passagen unterbrochene Nettospielzeit von 75 Minuten.
Ein spezifischer Tanzstil ließ sich nicht zuordnen, allerdings gefielen zum Ende der Aufführung hin die eher lustig anmutenden, kasperlehaft wirkenden Schrittfolgen des Ensembles mit seitlich im Schultergelenk erhobenen oberen Extremitäten und herabbaumelnden Unterarmen und gleichzeitigem während der Vorwärtsbewegung leicht einknickenden Kniegelenken. Sonst wechselten Soli und Pas de deux mit Ensembleszenen ab. Liebesbeziehungen verschiedener Art wurden angedeutet, in einem längeren Pas de deux auch persönlicher gestaltet, er mit unbekleidetem Oberkörper, sie dafür ohne Beinbekleidung. Das erinnerte an Szenen US-amerikanischer Spielfilme mit Doris Day und Rock Hudson, in denen beide sich in gleicher Art Pyjamajacke und -hose teilten. Ob diese Assoziation beabsichtigt war, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Klar wurde, dass der Choreograph vor allem den Aspekt der Liebe dargestellt wissen wollte, und zwar nicht nur die brüderliche, wie es der christlicher Interpretation entspricht, sondern auch die körperliche Liebe, auch unabhängig vom Geschlecht. Manches erinnerte an die Berufung der Jünger, hier auch von Jüngerinnen. Weiterhin wurde der Judasgeschichte Raum gegeben, eher im Sinne des Verzeihens, was ja durchaus einer christlichen Interpretation entspricht. Denn Judas’ Handlung war aus religiöser Sicht notwendig, um über den Tod Jesu am Kreuz zum zentralen Inhalt des christlichen Glaubens, der österliche Auferstehung, zu gelangen. Warum Judas am Ende des Stücks vom Volk entblöst und erschlagen wird und sich die Täter in Heilserwartung mit nach oben gestreckter Hand der Jesusfigur zuwenden, mag der Interpretation jedes Einzelnen überlassen bleiben.
Zur musikalischen Darbietung: Sie ließ zu wünschen übrig. Es wurde „vom Band“ gespielt. Die Solisten klangen überlaut und grell aus den Lautsprechnern, bar jedes Stimmvolumens. Das lag wohl nicht an den Sängerinnen und Sängern, sondern eher an der schlechten Aussteuerung bei der Wiedergabe mit Reduzierung der tiefen und übermäßiger Verstärkung der hohen Frequenzen.
Das Publikum reagierte am Ende begeistert und jubelte den fabelhaften Tänzerinnen und Tänzern der Kamea Dance Company lange zu. Leider gabe es kein Programmheft, sondern nur einen Programmzettel, dem sich eine Zuordnung der jeweils Auftretenden zu den ausgewählten Stücken nicht entnehmen ließ.
Dr. Ralf Wegner, 5. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
A Wilde Story, Ballett von Marco Goecke Staatstheater Hannover, Opernhaus, 4. November 2022