Viele Opernhäuser könnten heute ohne die große Anzahl von Sängern aus Osteuropa nicht überleben. Auch kommen von dort viele der Opernstars, die als Aushängeschild manchem Opernhaus volle Kassen garantieren. Vor dem Verschwinden des “eisernen Vorhangs” war dies nicht der Fall. So bekamen auch nur wenige Sänger des Moskauer Bolshoi Theater die Möglichkeit, außerhalb der damaligen Sowjetunion ihre Kunst zu zeigen. Einer von ihnen, der große Popularität in der Sowjetunion genoß aber sehr selten im Ausland auftrat, war der estnische Bariton Georg Ots. Seine zahlreichen Schallplatten dokumentieren eine der schönsten Baritonstimmen, die je aufgenommen wurde.
von Jean-Nico Schambourg
Georg Ots wurde am 21. März 1920 in Petrograd (das heutige St. Petersburg) in eine Künstlerfamilie – sein Vater war der bekannte estnische Tenor Karl Ots (1882 bis 1961) – geboren und wuchs in Jaroslawl (Russland) auf und begann dort ein Studium zum Ingenieur, das er 1941 beendete. Gleichzeitig ließ er dort, mit Unterstützung seines Vaters, seine Stimme ausbilden.
Seine Sängerkarriere nahm ihren Aufschwung während des 2. Weltkriegs. Durch Anordnung des Hauptquartiers wurde Ots abkommandiert zum Estnischen Lied- und Tanzensembles, das Konzerte an der Front und in Spitälern gab.
1944 wurde Georg Ots ans Konservatorium in Tallinn zugelassen. Hier studierte er in der Klasse des berühmten estnischen Sängers Tiyt Kuusik. Noch während seiner Studienzeit wurde Ots in die Estnische Theatertruppe aufgenommen. Hier begann er als Chorsänger, stieg aber schnell zum ersten Solisten des Theaters auf. Er blieb Mitglied der Oper Tallinn bis zu seinem Tode in 1975.
Sein Debüt an der Oper Tallinn war als ‚Vorsänger‘ in Tschaikovskis “Eugen Onegin”. Seine erste größere Rolle war der Poet Henri Murger in Kálmáns “Veilchen von Montmartre”. Diesem Erfolg folgten schnell weitere, zBsp in “Die drei Musketiere” von Ralf Benatzky (1945), “The Desert Song” von Siegmund Romberg (1946), “Der Wind der Freiheit” von Ivan Dunajevski (1949), “Rose-Marie” von Rudolf Friml (1950). Viele andere Operettenrollen folgten: Danilo in “Die lustige Witwe” von Franz Lehár, Fred Graham in “Kiss me Kate” von Cole Porter, und besonders die Rolle von Mister X in Emmerich Kálmáns “Zirkusprinzessin”.
Aber auch Opernrollen. So wurde er regelmäßig nach St. Petersburg eingeladen. Er trat an allen wichtigen Opernhäusern der Sowjetunion auf und wurde besonders am Bolschoi-Theater in Moskau bewundert. Er hatte nur einige wenige Auslandsauftritte als Escamillo, Jago und als Rigoletto in Budapest, Helsinki und Varna. Das finnische Publikum durfte zweimal seinen Danilo erleben.
Schnell wurde er zu einem der beliebtesten Sängern in der gesamten UdSSR. Er wurde zum “Volkskünstler der UdSSR” ernannt und erhielt zahlreiche Orden und Auszeichnungen: 1950 und 1952 den Stalin-Preis, 1968 den Staatspreis der UdSSR, 1970 den Lenin Orden. Seine Popularität stieg noch weiter nach der Veröffentlichung des Musikfilms “Mister X” (1958), einer Fernsehadaption von Kálmáns Operette “Die Zirkusprinzessin”, in der er die Hauptrolle spielte.
Die Popularität dieses Sängers und Idols bei einem breiten Publikum war immens. Konservatorien, aber auch Fährschiff, Straßen, Hotel, Hospitäler und Schulen wurden in Estland nach ihm benannt.
Ots spielte eine zentrale Rolle in der Verbreitung der russischen Vokalmusik. Viele Schallplatten mit estnischen und russischen Volksliedern und Schlagern dokumentieren dies. Aber auch Schallplatten mit Opernarien, sowie mit Liedern von Schubert, Mussorgski, Tschaikowski und moderner russischer Komponisten zeigen, mit welch äußerster Raffinesse Ots jede Musikrichtung gestaltete.
Auch die leichte Muse fand in Georg Ots einen perfekten Interpreten. Ob Volksmusik, neapolitanische Lieder, französische Chansons, Musicals oder sogar Jazzstandards, allen verlieh Ots durch seine Interpretation einen hohen Grad von Perfektion. Er nahm jedes Stück ernst und fand für jede Art von Musik den richtigen Ton.
Von seinem Opernrepertoire gibt es Aufnahmen von Partien wie Eugene Onegin, Jeletzki, Escamillo, Renato, Don Giovanni, Figaro aus “Le Nozze di Figaro”, Papageno, Rigoletto, Jago, Porgy, die Titelrolle aus Kabalewskys “Colas Breugnon”, sowie die Titeltolle aus Rubinsteins “Dämon”, eine seiner berühmtesten Rollen. Aber auch Händelarien hat er auf Schallplatte besungen (aus Rodelinda, Julius Caesar).
Die meisten seiner Aufnahmen sind in estnischer oder russischer Sprache aufgenommen. Einige Opernarien und Lieder sang er allerdings in der Originalsprache: deutsch, italienisch, französisch.
Der Kritiker Norman Linnell ließ sich in der Opernzeitschrift “The Record Collector” hinreißen, die Stimme von Georg Ots als “die schönste lyrische Baritonstimme, die je aufgenommen wurde” zu bezeichnen. Die Aufnahmen zeigen eine geschmeidige Stimme von weicher, warmer und vibrierender Qualität. Vor allem die lyrischen Partien waren bei ihm erstklassig aufgehoben. Seine Atemtechnik war vorbildlich und seine klare Diktion und feine Phrasierung verliehen seiner Kunst eine zusätzliche Qualität. Alle seine Aufnahmen zeugen von geschmackvoller Interpretation. Er war in der Lage, jeder musikalischen Phrase Bedeutung zu verleihen und reiche stimmliche Nuancen hinzuzufügen. Das erlebt man vorbildlich in seiner Interpretation der zweiten Arie des Renato in Verdis “Ballo in maschera” oder in der Arie des Jagos aus dessen “Otello”, wo er mit flüsternder Stimme am Ende der Arie sein teuflisches Wesen zeigt.
Seine schönste Opernaufnahme ist für mich aber zweifellos die Arie des Prinzen Jeletzki aus der Oper “Pique Dame” von Tschaikowski. Nie habe ich diese Liebeserklärung an Lisa so zärtlich gesungen gehört. Mit meiner Meinung stehe ich nicht alleine da: auch vom bekannten englischen Kritiker John Steane wird die Interpretation dieser Arie als die beste angesehen, die er je gehört hat. Er beklagt auch, dass die Stimme von Georg Ots im Westen nie besser bekannt wurde.
1972 wurde bei ihm ein bösartiger Hirntumor festgestellt. Er wurde einige Male operiert und arbeitete fast bis zum Ende. Er starb am 5. September 1975 in Tallinn.
Jean Nico Schambourg, 30. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schammis Klassikwelt (c) erscheint regelmäßig am Sonntag.
Jean-Nico Schambourg, Jahrgang 1959. Gehört einer weltlichen Minderheit an: Er ist waschechter Luxemburger! Und als solcher war es normal, Finanzwirtschaft zu studieren. Begann seine berufliche Karriere bei der Kriminalpolizei, ehe er zur Staatsbank und Staatssparkasse Luxemburg wechselte. Seit jeher interessiert ihn jede Art von Musik, aber Oper wurde seine große Liebe. Er bereist ganz Europa, um sich bekannte und unbekannte Opern und Operetten anzuhören. Nebenbei sammelt der leidenschaftliche Hobbykoch fleißig Schallplatten über klassischen Gesang (momentan ungefähr 25.000 Stück). Sang in führenden Chören in Luxemburg, verfolgt seit einigen Jahren aber ausschließlich eine Solokarriere als Bass. Sein Repertoire umfasst Lieder und Arien in zwölfSprachen. Unter der Bezeichnung “Schammilux Productions” organisiert er selbst jährlich zwei bis drei Konzerte. Perfektionierte sein Singen in Meisterkursen mit Barbara Frittoli, Jennifer Larmore sowie Ramón Vargas, organisiert von “Sequenda Luxembourg”, einer Organisation zur Förderung junger Sängertalente, geleitet von seiner Gesangslehrerin Luisa Mauro. Neu auf klassik-begeistert.de: Schammis Klassikwelt, regelmäßig am Sonntag.