Jan Vogler © MARCO GROB
Stärken und Schwächen kompakt: Kent Naganos Dirigat zeigt sich mal wieder in allen Facetten – positiv wie negativ – an einem Abend. Mit Sean Shepherds frisch in New York uraufgeführtem Auftragswerk trifft er absolut den richtigen Ton der zeitgenössischen Musik. Hingegen geriet sein Beethoven leider weitgehend flach und oberflächlich. Am Meister ist er gescheitert.
Elbphilharmonie Hamburg, 28. April 2023
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Audi Jugendchorakademie, The Young ClassX Ensembles, Hamburger Alsterspatzen und Solisten des Dresdner Kreuzchors
Jan Vogler, Violoncello
Kent Nagano, Dirigent
Werke von Johannes Brahms, Ludwig van Beethoven und Sean Shepherd
von Johannes Karl Fischer
Schon im eher besinnlich angelegten Schicksalslied von Johannes Brahms – eigentlich Spezialterritorium für Naganos zeitlich zurückhaltende Dirigate – wollte sich die emotionale Tiefe dieser innigen Musik nur schwächlich zeigen. „Wasser von Klippe zu Klippe geworfen“. So lautet zwar der Text. Doch malte der Chor keine Kreidefelsen. Und der Schmerz der leidenden Menschen war auch nicht wirklich zu spüren. Ein eher emotionsloses Schicksal.
Das wurde in der achten Symphonie von Beethoven nicht besser. Trotz zugiger Tempowahl lief dieses eigentlich höchst heitere Werk weitgehend im Leerlauf. Nun ja, es ging voran. Aber mehr nach dem Motto: „Hauptsache die Noten runter rattern.“ Statt furioser Freudenstimmung eher plakative Notenwiedergabe.
Nagano scheint den Turbo nicht wirklich zünden zu können… wie ein ICE, der mit 150 Sachen durch die Landschaft gleitet, um bloß nicht die Mittagsruhe der lieben Vögel zu stören. Wieder einmal ließ der Hamburger Generalmusikdirektor die Energie, die diese muntere Musik so begeisternd macht, völlig auf der Strecke liegen. Statt humorvoller Heiterkeit eher makellose Melodein zum Einschlafen…
Nach der Pause kommt endlich Naganos time to shine. Ein Auftragswerk… von einem 43-jährigen Komponisten namens Sean Shepherd. Kennt kein Mensch, macht nix. Allein im ersten Satz zeigt der junge Amerikaner eine einzigartige klangliche Vielfalt. Dieser Komponist malt in fünf Minuten mit mehr Farben als andere in fünf Stunden!
Mit sanften, tonalen Melodien befriedigt er das Ohr, auch die Skeptiker der seriellen Musik brauchen sich keine Sorgen zu machen. Doch dann schallen die Worte „Lass das mit dem Gewehr“ durch den Saal, schnell bricht der gesprochene Text in einer schieren Massenpanik im Chor aus. Selbst die Klänge des Orchesters erstarren vor Erstaunen.
On a Clear Day… ja, der Himmel ist wahrhaftig wolkenlos. Aber was an so einem strahlenden Tag alles passieren kann. Ein Plädoyer für Nächstenliebe. Und Frieden. Würden nur die russischen Soldaten diese mitreißenden Klänge und Worte zu Gehör bekommen… vielleicht kämen sie tatsächlich zur Vernunft und würden ihre Waffen endlich niederlegen.
Zurück in der Elphi verlassen die Leute en masse den Saal. Während des Stückes. Beim Ausgang gibt ein älterer Konzertbesucher seine Meinung deutlich kund: „Naja, war ja ein recht junger Künstler. Der ist ja schon 1979 gestorben.“ Fakten offensichtlich verdreht, oder einfach durcheinandergekommen. Eine Stimmung wie beim Skandalkonzert 1913. Nur behalten die Leute ihre Skepsis in sich. Man spürt sie trotzdem. Und wird Zeuge eines Stücks frisch gebackener Musikgeschichte. So kann das Internationale Musikfest in der Hansestadt gerne weiter gehen!
Bei allem Respekt und aller Bewunderung für Ligeti, Boulez, Messiaen und Co.: Neue Musik muss nicht immer dissonant sein. Man kann auch wahnsinnig viel spannendes Neues machen, und es kann auch einfach nur schön sein. Dafür hat der Hamburgische Generalmusikdirektor ein richtig feines Fingerspitzengefühl. Er kennt offensichtlich die richtige Musik für den richtigen Moment.
Liebe Leute, bei allen kontroversen rund um Naganos oftmals missglückte Operndirigate samt Buh-Rufen – über die ich schon des öfteren berichtet habe: Hört mal hin, was er für wunderbare Musik der heutigen Zeit auf die Bühne bringt. Es wird euch gefallen! Da muss man kein Boulez-Fan sein, um frisch uraufgeführte Werke schmackhaft zu goutieren.
Johannes Karl Fischer, 29. April 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Internationales Musikfest Hamburg 28. April – 7. Juni 2023 klassik-begeistert.de, 8. Dezember 2022
Ich war gestern auf dem Konzert mit demselben Programm und stimme Johannes zu. Der letzte Satz von Beethovens 8. Sinfonie soll eigentlich Allegro vivace sein; dies war aber eher moderato. Das Stück von Sean Shepherd finde ich interessant, vor allem wegen der speziellen akustischen Effekte. Leider war das Publikum nicht darauf vorbereitet, diese Art von Werk zu hören. Am meisten hat mich die Bemerkung einer alten Dame belustigt: „Der Text war aber schön.“
Jolanta Łada-Zielke
So unbekannt ist Sean Shepherd nicht (mehr), auch in Köln hat man ihn schon gehört. Hätte mir mehr Details zu seinem Stück gewünscht, das wurde mir in dieser Kritik dann doch sehr schnell abgefrühstückt. Denn im Gegensatz zu anderen modernen Klangakrobaten erinnere ich mich noch, dass sein Werk hier in Köln nicht uninteressant war…
https://klassik-begeistert.de/wdr-sinfonieorchester-koeln-cristian-macelaru-dirigent-denis-kozhukhin-klavier-koelner-philharmonie-4-februar-2022/
Liebe Grüße,
Daniel Janz