Von anrührender Romantik bis zu einem postromantischen „Angry Drummer“: Herbert Blomstedt und Leonidas Kavakos verzaubern das Publikum der MUK mit Brahms und Nielsen

Herbert Blomstedt, Leonidas Kavakos, Violine, NDR Elbphilharmonie Orchester  Musik- und Kongresshalle Lübeck, 9. Juni 2023

Foto: Blomstedt – ein Deutsches Requiem 1983 (Dr. Holger Voigt)

Musik- und Kongresshalle Lübeck, 9. Juni 2023

Johannes Brahms: Konzert für Violine und Orchester, D-Dur op. 77

Carl Nielsen: Symphonie No. 5 op. 50

Herbert Blomstedt, Dirigent
Leonidas Kavakos, Violine

NDR Elbphilharmonie Orchester


von Dr. Holger Voigt

Es ist nun schon mehr als vierzig Jahre her (11. Mai 1983), dass ich im Anschluss an die Aufführung „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms in der damals noch „Musikhalle“genannten, heutigen Laeiszhalle Hamburg Herbert Blomstedt kurz kennenlernen durfte. Der damalige Konzertabend war ein begeisterndes und prägendes Erlebnis (wohl für alle Beteiligten), das ich nie vergessen konnte/werde und an dessen Details ich mich noch immer erinnere (Photo: Unterschriften von Herbert Blomstedt, Helen Donath und Franz Grundheber). Nun also ein erneutes Wiedersehen und Wiederhören nach zahlreichen Blomstedt-Konzerten, die jedes für sich genommen eigene Höhepunkte darstellten.

Bei norddeutschem Seewind und strahlender Sonne erlebte die Hansestadt Lübeck einen wahren Sommertag, der schöner nicht hätte enden können. Das in der Musik- und Kongresshalle Lübeck (MUK) stattfindende Konzert war einfach grandios!

Zwei Komponisten aus dem Norden wurden von Herbert Blomstedt für diesen Abend ausgewählt – Johannes Brahms (7. Mai 1833 – 3. April 1897) und der hierzulande leider noch immer wenig bekannte Däne Carl Nielsen (9. Juni 1865 – 3. Oktober 1931). Für letzteren Komponisten setzt sich Herbert Blomstedt seit Jahren mit großer Begeisterung immer wieder ein, um ihn in das Bewusstsein des Publikums zu rücken.

© Matthias Creutziger

Das Violinkonzert von Johannes Brahms ist so oft gespielt und gehört worden, dass es beinahe eine „Ohrwurm“-Stellung in der klassischen Musik markiert. Das ändert allerdings nichts daran, dass es von genialer Ausgewogenheit und Klangschönheit geprägt ist, wobei Solist und Orchester wie in kaum einem anderen Solokonzert zu einer Einheit verschmelzen, was sich im Begriff „symphonischen Violinkonzert“ widerspiegelt.

Der griechische Violinist Leonidas Kavakos, „Artist in Residence“ im NDR Elbphilharmonie Orchester, begeisterte mit seinem virtuosen Spiel und meisterte die erheblichen Schwierigkeiten im fast ungarisch anmutenden Schlusssatz mit sprühendem Feuer und klanglicher Schönheit. Packend wie selten zu hören gestaltete er die Kadenz von Joseph Joachim – für mich ein absoluter Höhepunkt. Kongenial und an der Körpersprache ablesebar seine genuine Harmonie mit dem auf einer Klavierbank sitzenden Dirigenten. Am Ende gab es stürmischen Beifall und eine zärtliche, anrührende Umarmung beider Künstler, was das Publikum von den Sitzen aufspringen ließ.

Leonidas Kavakos © Marco Borggreve

Die Zugabe des Solisten war eine anerkennende Ehrung und Danksagung für den langjährigen Konzertmeister des NDR Elbphilharmonie Orchesters Roland Greutter, der nunmehr in den Ruhestand gehen wird. Ausgewählt und launig vorgetragen kamen drei Duos von Béla Bartók zur Aufführung, was das Publikum zu stehenden Ovationen trieb.

Nach der Konzertpause wartete Carl Nielsens 5. Symphonie auf das gespannte Publikum. Carl Nielsen, in den skandinavischen Ländern bestens bekannter Komponist im Range eines Jean Sibelius für Finnland, verstand es, symphonische Stile seiner Zeit mit avantgardistischen Akzenten zu kondensieren. Für den Zuhörer bedeutet dieses, das er bei der Suche nach klanglicher Vertrautheit von Nielsen abrupt ausgetrickst wird, sobald er meint, vertraut klingendes Territorium betreten zu haben. In stetem Wechsel zeigt auch Nielsens fünfte Symphonie geradezu ein Sammelsurium bekannter Klangsprachen und -stile, und man meint stellenweise, Schostakowitsch, Ravel, oder Gershwin motivisch ausmachen zu können. Fast mit einer sarkastischen Humorattitüde lässt Nielsen es einfach nicht zu, zur Ruhe zu kommen.

Bereits die symphonische Struktur mit nur zwei Sätzen lässt vermuten, dass es Nielsen auf ein duales Prinzip ankam. Herbert Blomstedt hat dazu einmal ausgeführt, dass es zwei Welten seien, die sich begegnen und das nicht gerade freundschaftlich. Christlich gesehen, wäre der Dualismus „Gut und Böse“ auszumachen, oder – heute nicht gerade unaktuell – „Krieg und Frieden“. So scheint im ersten Satz die Welt harmonisch und in sich ruhend zu sein, bis plötzlich die Ruhe durch einen Trommler gestört wird, der die Harmonie zu untergraben versucht. Immer lauter und aggressiver werdend spielt er sein fast militärisch klingendes Kurzmotiv und will einfach nicht aufhören. Endlich scheint er zu erkennen, dass er ein Störenfried ist (einer, der den Frieden stört), und er verlässt den Konzertsaal. Draußen gibt er aber noch immer keine Ruhe, und man hört ihn unverändert durch die geschlossene Tür.

Im zweiten Satz hat sich – der Störenfried ist verstummt – eine flirrende, geradezu Gewitter-klärende Harmonie wieder restauriert, die bis zu einem triumphalen Abschluss geführt wird. So endet diese Symphonie durchaus in einer Atmosphäre der Zuversicht.

Herbert Blomstedt, mit kleinen, akkuraten Gesten und fast streichelnden Handbewegungen hat jede emotionale Befindlichkeit vollständig im Griff. Es ist eine Freude, diesem nunmehr fast 96-jährigen Dirigenten zuzuschauen und seine Liebe zur Musik zu teilen. Großer Schlussapplaus, keinen hält es mehr auf den Sitzen. Immer wieder muss der Dirigent, aufmerksam geführt, die Bühne betreten, um die Begeisterung des Publikums entgegen zu nehmen. Was für ein Konzertabend!

Anmerkung: Es ist die eingesteifte Wirbelsäule, die nur kleine Schritte zum Gehen zulässt und Herbert Blomstedt so gebrechlich erscheinen lässt. Im Zugang zu seiner Garderobe konnte er kaum aufhören, sich mit Musikern und Gästen angeregt zu unterhalten und schien dabei um viele Jahre jünger zu sein. Möge er noch viele Jahre in der Musikwelt präsent bleiben!

Dr. Holger Voigt, 11. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Johannes Brahms

Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77

  1. Allegro non troppo
  2. Adagio
  • Allegro un poco tranquillo – Allegro

Carl Nielsen

Symphonie No. 5 op. 50

  1. Tempo giusto – Adagio non troppo
  2. Allegro – Un poco più mosso – Presto, Andante un poco tranquillo – Allegro

Herbert Blomstedt, Dirigent, Leonidas Kavakos, Violine, NDR Elbphilharmonie Orchester Musik- und Kongresshalle Lübeck, 9. Juni 2023

Sommereggers Klassikwelt 188: Carl Nielsen ist der bedeutendste Komponist seiner Heimat Dänemark klassik-begeistert.de, 6. Juni 2023

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