„Martern aller Arten“ – fürs Publikum der Wiener Volksoper

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail  Volksoper Wien, 17. Juni 2023

Hedwig Ritter (Blonde), Stefan Cerny (Osmin) © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Mit „Martern aller Arten“ aller Arten droht bekanntlich der zwischen männlichen Trieben und nobler Zurückhaltung hin- und hergerissene Bassa Selim der Konstanze in Mozarts „Entführung aus dem Serail“. Doch in dieser Neuinszenierung der Volksoper Wien war es nicht die schöne Haremsfavoritin Konstanze, sondern das arme Publikum, das die angedrohten „Martern aller Arten“ über sich ergehen lassen musste.


Volksoper Wien, 17. Juni 2023

Wolfgang Amadeus Mozart
Die Entführung aus dem Serail

von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)

Es war in der Tat kaum erträglich, als statt dem üblichen Happy End der Bassa an die Rampe trat und dem Publikum einen endlosen, dümmlich-belehrenden Vortrag hielt und diesem die Welt erklärte. Derartige Vorträge gab es zu Hauf in dieser großteils verunglückten Inszenierung: Auch Blondchen legt los mit kämpferischen Tiraden über Unterdrückung und Befreiung der Frau. Nach der Pause wird das Publikum (immerhin vereinzelte Lacher von ganz oben in der Galerie) mit einer mehr als dürftigen Zirkusclownnummer um die zwei zwecks Entführung herbeigeschafften Leitern gelangweilt, bevor der Zweite Akt endlich loslegen darf. Und das Allerschlimmste: Bassa Selims Soldateska, in tarnfarbiger Kampfuniform, mit Kalaschnikows im Anschlag – unmittelbar nach seinem unerträglich dummen Vortrag über die kolonialen Sünden der westlichen Welt (namentlich Englands als Sklavenhalternation). Wie das zusammenpassen soll, weiß der Geier – und vermutlich auch dieser nicht. Eine Beleidigung der Intelligenz des Publikums jedenfalls, und eine kaum erträgliche Geduldsprobe.

Als ob diese endlosen Publikumsbelehrungen (die ein gewisser Sulaiman Masomi, seines Zeichens afghanisch-deutscher Rapper und „Poetry-Slammer“ auf dem Gewissen hat)  nicht genug gewesen wären – da waren leider auch noch die musikalischen, sprich: sängerischen  Unzulänglichkeiten einer Mehrheit der Sängerinnen und Sänger, an die man in dieser Krassheit an der Volksoper eigentlich nicht gewohnt ist.

Die Blonde (Hedwig Ritter) begann gleich ihren ersten Auftritt mit Schreierei, von der man kein Wort verstand – und nachher begann sie, mit ähnlichem Effekt, zu singen. Der Tenor Belmonte (Timothy Fallon) bot zwar einige sehr schöne Höhen, aber sonst war sein Gesang eher dumpf und dürftig, von tenoralem Schmelz keine Spur. Meine bescheidene Meinung: Als allererstes müsste bei der Neuinszenierung einer Oper ein guter Tenor her, und das muss man sich dann auch etwas kosten lassen. Sonst macht das Ganze wenig Sinn. Leider machte sein Freund und Kammerdiener Pedrillo, verkörpert von Daniel Kluge, in seinen Posen allzu unterwürfig gegenüber Osmin und (von der berühmten Trinkszene vielleicht abgesehen kaum sehr komisch) die Sache auch nicht besser – er verblieb sängerisch ebenso im unteren Mittelmaß.

Hingegen gab es zwei Darsteller, die der dürftigen Sache doch noch musikalisches Niveau verliehen: Die grandiose aus Texas stammende Sopranistin Konstanze: Rebecca Nielsen. Mit ihren  mühelos virtuosen Koloraturen, den strahlenden Klängen und dem erotischen Spiel, in dem sie den Verführungen des attraktiven Bassa vorübergehend doch noch nachgibt (und damit den Verdacht ihres Liebhabers Belmonte durchaus bestätigt), war sie der unbestrittene Star dieses Abends – und wenn nicht alles täuscht, ein werdender Weltstar. Man wird sich den Namen Rebecca Nielsen unbedingt merken müssen – und diesem hoffentlich bald auf den großen Bühnen der Welt begegnen.

Daniel Kluge (Pedrillo), Timothy Fallon (Belmonte), Rebecca Nelsen (Konstanze), Hedwig Ritter (Blonde) © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Ebenfalls herausragend der österreichische Bass Stefan Cerny: Sonor, maskulin und doch (vor allem nachdem ihn Pedrillo zum unwiderstehlichen Zypernwein bekehrt hat), durchaus zu munteren Scherzen aufgelegt. Doch diese beiden sängerischen Höchstleistungen, die einem in dieser Inszenierung doch noch Genuss bescherten, gingen unter im schier endlosen Palaver von Bassa und Blondchen. Immerhin: Eine durchaus gelungene, witzige Pointe war dennoch zu verzeichnen – nämlich in der Tirade des Osmin gegen „diese Chinesen“, gegen die „eine chinesische Mauer errichtet“ werden sollte. Den aufmerksameren Zuschauern dürfte kaum entgangen sein, dass dies eine ziemlich brillante Persiflage auf die populistisch-primitiven Ansichten und Programmpunkte der rechtsextremem FPÖ (Freiheitlichen) war, die ja bekanntlich in Österreich längst wieder Fuß gefasst hat und in den Meinungsumfragen konstant an erster Stelle liegt. Das war, zweifellos, stark.

Daniel Kluge (Pedrillo), Timothy Fallon (Belmonte), Rebecca Nelsen (Konstanze), Hedwig Ritter (Blonde) © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Kreativ und ästhetisch sehr befriedigend waren die wunderschönen, von den Komparsen gebildeten „Tableaux“, welche die von westlichen Projektionen und Wunschvorstellungen geschaffene, „orientalische“ Traumwelt als „Garten der Lüste“ darstellten, der mittels Drehbühne um eine riesenhafte, köstlich reife Feige – als Inbegriff einer erotischen Frucht – kreiste. Erinnerungen und Zitate aus surrealen Szenen in bekannten Gemälden (Hieronymus Bosch unter anderen) kamen zum Einsatz; wohl nicht zufällig, denn diese Kunstwerke sind ja unweit von hier, im Kunsthistorischen Museum zu bewundern.

© Dr. Charles Ritterband

Und, am Ende doch noch ein begeistertes Lob – nämlich für das (wie immer…) brillante Orchester der Volksoper unter dem souveränen Altmeister Alfred Eschwé. Selbst irrlichternd-egomane Regisseure (kürzlich hatte ich an dieser Stelle das doch eher zweifelhafte Vergnügen, eine noch mehr verunglückte „Butterfly“-Freilicht-Inszenierung in einem antiken Theater in Athen zu rezensieren) vermögen weder einen Puccini noch einen Mozart umzubringen. Und so wartete man zwischen den endlosen, überflüssigen Reden auf die köstliche, befreiende Musik Mozarts, so perfekt, präzis und gleichzeitig temperamentvoll dargeboten vom Volksopernorchester.

© Dr. Charles Ritterband

Weshalb ein erstklassiges Stück wie die „Entführung“, von einem Genie wie Mozart, das sich seit seiner Uraufführung in eben dieser Stadt (16. Juli 1782) fast zweieinhalb Jahrhunderte an nahezu sämtlichen Bühnen der Welt bestens bewährt hat, von einem irregeleiteten Regisseur unbedingt „intellektuell angereichert“ und damit verschlimmbessert werden muss, bleibt mir schleierhaft.

Dr. Charles E. Ritterband, 18. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:

Dirigent: Alfred Eschwé

Regie: Nurkan Erpulat

Zusätzliche Texte: Sulaiman Masomi

Selim: Murat Seven
Konstanze: Rebecca Nelsen
Blonde: Hedwig Ritter
Belmonte: Timothy Fallon
Pedrillo: Daniel Kluge
Osmin: Stefan Cerny

Orchester, Chor und Komparserie der Volksoper Wien

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail  Staatsoper Hamburg, 15. Oktober 2022

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail Staatsoper Hamburg, 6. Oktober 2022

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail, Grand Théatre de Genève, 24. Januar 2020

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