Diese Aufführung befriedigt die Sehnsucht nicht

Endstation Sehnsucht, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams, Gastspiel des Tschechischen Nationalballett

Foto: Nikola Márová als Blanche DuBois in John Neumeiers Ballett Endstation Sehnsucht (Foto: RW)

Das Thema der leicht hysterischen, Liebe und Schutz suchenden und immer an die falschen Männer geratenden Frau erscheint heute etwas aus der Zeit gefallen. Die rechte Empathie, wie sie Laura in Neumeiers Glasmenagerie gewinnt, will sich für Blanche DuBois nicht einstellen, vielleicht kurzzeitig etwas Mitleid.

 

Staatsoper Hamburg, 20. Juni 2023


Endstation Sehnsucht
Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams

Gastspiel des Tschechischen Nationalballetts 

Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme  und Lichtkonzept: John Neumeier

Musik: Sergej Prokofjew („Visions fugitives“, opus 22), Alfred Schnittke (Erste Sinfonie)

Pianist: Martin Levicky, und Musik vom Tonträger

von Dr. Ralf Wegner

Es gibt ein Problem mit anderen Tanztruppen. Neumeiers Kreationen sind so auf die Fähigkeiten seiner Hamburger Tänzerinnen und Tänzer ausgerichtet, dass sich bei Aufführungen anderer Ensembles stets die Frage stellt, ob eine vermisste darstellerisch-tänzerische Intensität an Neumeiers psychologisch ausgefeilter und anspruchsvoller Choreographie liegt oder von den generell anders geschulten Ensembles einfach nicht zu leisten ist.

Gestern wirkte der erste Teil von Neumeiers Ballett, Belle Rêve überschrieben, choreographisch eher blutleer und wenig subtil. Was hat Neumeier sonst aus Hochzeitsfesten, hier in dem großen, mit hohen korinthischen Säulen geschmückten Festsaal eines Südstaatenherrenhauses gemacht, zuletzt wohl in seiner Liliom-Choreographie. Freude, Fröhlichkeit oder jugendlicher Übermut wollten sich nicht einstellen, abgesehen von Alexandra Pera, die als Stella, Schwester der Braut, mit ihrem lebensfroh schalkhaft gewinnenden Lächeln für sich einnahm.

Alexandra Pera als Stella (Foto: RW)

Auch Nikola Márová tanzte die Partie der Blanche DuBois überzeugend, wenngleich sie von der Rolle her keine rechte Sympathieträgerin ist. Blanches Bräutigam Allan Gray (Jakub Rašek) und  dessen ihm erotisch verbundener Freund (Basil Schwerzmann) blieben darstellerisch steif. Ihnen gelang es kaum, ihre innere Beziehung überzeugend zum Ausdruck zu bringen.

Der zweite Teil, New Orleans überschrieben, begann mit einem erotischen Pas de deux von Stella und ihrem Ehemann Stanley Kowalski. Alexandra Pera und Danilo Lo Monaco gaben ein schönes Paar ab, die Flüssigkeit der Bewegungen, die das Paar sinnbildlich miteinander durchdringen lässt, wollte sich aber nicht einstellen. Ihre Windungen, Hebungen und Drehungen wirkten mehr turnerisch als tänzerisch verschmelzend. Das galt auch für die späteren Pas de deux von Blanche und Mitch (John Powers) sowie von Blanche und Stanley, wenngleich zumindest bei letzterem der dramatische Aspekt stärker im Vordergrund stand.

Eingangs führten Stanley und Mitch einen freundschaftlichen Boxkampf auf. Auch dieser zeigte wenig innere, nach Außen drängende Kraft. Man spürte nicht die Emotionen zweier Freunde, die sich kämpferisch aneinander messen wollen. Ihr Auftreten ähnelte mehr jenen hölzerner Puppen, die an Drähten von oben gelenkt werden.

Basil Schwerzmann (Freund Allan Grays), Alexandra Pera (Stella, Schwester von Blanche DuBois und spätere Ehefrau von Stanley Kowalski), Danilo Lo Monaco (Stanley Kowalski), Nikola Márová (Blanche DuBois), John Powers (Mitch, Freund von Stanley), Jakub Rašek (Verlobter von Blanche) (Foto: RW)

Die Ensembleszenen sind im zweiten Teil sehenswerter und nehmen auch mehr Raum ein. Der Beifall des zu etwa Zweidrittel besetzten Hauses war langanhaltend und freundlich. Das Thema der leicht hysterischen, geschlechtliche Liebe und Schutz suchenden und immer an die falschen Männer geratenden Frau erscheint heute etwas aus der Zeit gefallen. Die rechte Empathie, wie sie Laura in Neumeiers, ebenfalls auf Tennessee Williams basierendem Melodram Die  Glasmenagerie gewinnt, will sich für Blanche nicht einstellen; vielleicht kurzzeitig etwas Mitleid. Aber reicht das aus, um dieses Stück zu reaktivieren? Interessant wird es sein zu sehen, ob die Hamburger Tänzerinnen und Tänzer bei der hiesigen Wiederaufnahme im September mehr aus diesem Ballett herausholen werden.

Dr. Ralf Wegner, 21. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Die Glasmenagerie, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams Hamburg Ballett, 30. Mai 2023

Romeo und Julia, Choreographie und Inszenierung von John Neumeier Staatsoper Hamburg, Wiederaufnahme am 11. Juni 2023

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