Alina Cojocaru beeindruckt unverändert als Laura Rose Wingfield in John Neumeiers Ballett Die Glasmenagerie

Die Glasmenagerie, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams  Hamburg Ballett, 30. Mai 2023

Alina Cojocaru (Laura Rose Wingfield) (Foto: RW)

Dreh- und Angelpunkt sind die großen Pas de quatre im Wohnzimmer der Wingfields zu Beginn und am Ende des Stücks. Besonders die sich wellenförmig wiederholenden, nur wenig variierenden, aber eingängigen Melodien von Philip Glass (The Hours, Nr. 14, Klavier Daria Parkhomenko) korrespondieren überzeugend mit den fließenden Bewegungen und Hebungen der vier Tänzerinnen und Tänzer.


Hamburg Ballett, 30. Mai 2023


Die Glasmenagerie

Ballett von John Neumeier (Choreographie, Licht und Kostüme) nach Tennessee Williams

Musik: Charles Ives, Philip Glass, Ned Rorem

Mitarbeit Bühnenbild: Heinrich Tröger, Filme: Kiran West

Musikalische Leitung des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg: Simon Hewett

von Dr. Ralf Wegner

Neumeiers Ballett Die Glasmenagerie nach einem Stück von Tennessee Williams fesselt nicht unmittelbar, vielmehr bedarf es einer gewissen Zeit, um sich in die eher düstere, aber tiefenspannende Geschichte einzufinden und Empathie mit den Handelnden zu entwickeln: Eine ehemalige, vom Ehemann verlassene Südstaatenschönheit namens Amanda Wingfield versucht mit dem Verkauf von Illustrierten ihre kleine Familie über Wasser zu halten.

Ihren Sohn Tom Wingfield, unerwidert in seinen Freund Jim O’Connor verliebt, zieht es mehr zur brotlosen Zeichenkunst. Er verliert darüber seine Arbeit in einer Schuhfabrik. Ihre gehbehinderte, kleine gläserne Tierchen sammelnde Tochter Laura Rose Wingfield träumt sich in eine andere Welt. Sie verlebendigt ihr gläsernes Einhorn (getanzt von Artem Prokopchuk) und erlebt mit ihm unbeschwertes Glück frei von jeder Behinderung.

Tom stellt seinen Freund Jim der Mutter und der Schwester vor. Jim ist nett zu Laura, gibt ihr einen Kuss und erweckt damit konkrete Sehnsüchte. Jim wird sich schnell darüber klar, eine Grenze überschritten zu haben. Als Jim von seiner Freundin Betty von den Wingfields abgeholt wird, bleiben Laura, aber auch ihre Mutter desillusioniert zurück. Laura versenkt sich wieder in ihre Tiersammlung aus Glas, Amanda zieht mit ihren Illustrierten auf die Straße und Tom verlässt endgültig seine Familie.

Patricia Friza (Amanda Wingfield), Priscilla Tselikova (Betty), Christopher Evans (Jim O’Connor), Alina Cojocaru (Laura Rose Wingfield), Mihail Moisei (Tom Wingfield als Kind), Stacey Denham (Ozzie, ein Kindermädchen), Simon Hewett (musikalische Leitung), Felix Paquet (Tom Wingfield), Edvin Revazov (Tennessee) (Foto RW)

Seit der Uraufführung am 1. Dezember 2019 ist die Besetzung fast gleich geblieben. Alina Cojocaru tanzt Laura, Félix Paquet Tom, Patricia Friza Amanda und Christopher Evans Jim. Eine wichtige Rolle kommt Edvin Revazov als Alter Ego Tennessee zu. Gleich gekleidet wie Paquet sind beide aus der Ferne nicht leicht zu unterscheiden, übernehmen sie doch immer wieder abwechselnd die Partie des sich in seiner Familie eingeengt fühlenden Tom. Häufig beobachtet Revazov, wie das personifizerte schlechte Gewissen, auch nur die Szene.

Neumeiers Handlung beginnt mit Tom und Laura  im Kindesalter (Mihail Moisei und Linnea Heikillä von der Ballettschule des Hamburg Ballett). Sie, damals offenbar noch in besseren Verhältnissen lebend, tollten mit einem Kindermädchen (Stacey Denham), sich gegenseitig als Geisterscheinungen erschreckend.

Dreh- und Angelpunkt sind die großen Pas de quatre im Wohnzimmer der Wingfields zu Beginn und am Ende des Stücks. Besonders die sich wellenförmig wiederholenden, nur wenig variierenden, aber eingängigen Melodien von Philip Glass (The Hours, Nr. 14, Klavier Daria Parkhomenko) korrespondieren überzeugend mit den fließenden Bewegungen und Hebungen der vier Tänzerinnen und Tänzer. Vor allem beeindruckt Patricia Friza in ihrer Mutterrolle bei dem Versuch, ihrer kleinen Familie Stabilität und auch Hoffnung zu geben. Am Ende sind es mehrere sich abwechselnde Pas de deux, eher fröhlich mit Jim und Amanda, mehr ernst mit Jim und Laura. Sehr überzeugend gelangen auch immer wieder die Pas de deux von Félix Paquet und Christopher Evans.

Alina Cojocaru hat die Rolle der Laura kreiert und wurde dafür 2020 von der Zeitschrift Tanz als Tänzerin des Jahres ausgezeichnet. Sie ist damit für die Interpretation des behinderten, sich in Träume flüchtenden Mädchens maßstabsetzend. Wie ihre 2012 mit dem Prix Benois de la Dance ausgezeichnete Interpretation der Julie in Neumeiers Ballett Liliom legt sie die Rolle der Laura bescheiden und eher introvertiert an; Wut, Ärger oder jede Aggresivität sind ihrer Darstellung fremd. Bei aller herausragender tänzerischen Qualität Cojocarus könnte man sich die Rolle auch etwas weniger introvertiert, durchaus widerborstiger vorstellen.

Den langen Mittelteil des Balletts nehmen von Neumeier hinzugedachte Episoden aus dem Leben der Wingfields ein. Straßenszenen wechseln mit der Arbeit Toms in der Schuhfabrik, Laura scheitert im Schreibmaschinenkurs, sie träumt im Kino von einer Liebesaffäre mit Jim, Tom schaut in einer Tanzhalle vorbei (Yaiza Coll und Lizhong Wang tanzen glamourös zu einer historischen Aufnahme von Bob Crosby and his Orchestra aus dem Jahre 1929) und landet in einer Schwulenbar (Lennard Giesenberg hat die Rolle des Malvolio von Marc Jubete übernommen), Jim siegt bei einem Basketballturnier und lässt sich von Betty (Priscilla Tselikova) anhimmeln. All diese fast revueartig ablaufenden Szenen vergehen wie im Fluge.

Man bekam wie immer bei Neumeier viel zu sehen; die Vorstellung dauerte mit Pause zweieinhalb Stunden. Zwischendurch wurde immer mal wieder gehustet, besonders bei den leisen Stellen. Eigentlich sollte man husten, wenn es laut wird, dann scheint aber die Konzentration auf das Musikalische den Hustenreiz zu unterdrücken. Alina Cojocaru erhielt rote Rosen zugeworfen: der Beifall des vollbesetzten Hauses war herzlich, lang anhaltend, aber ohne die sonst üblichen Kreisch- und Pfeiforgien.

Neumeiers Glasmenagerie läutet ein bis zur Nijinsky-Gala am 09. Juli andauerndes Ballettfest ein. Gespielt werden an ca. 22 Tagen insgesamt 16 Neumeier-Produktionen, darunter Romeo und Julia sowie die drei klassischen Tschaikowsky-Ballette, weiterhin Liliom, Sylvia und Hamlet 21, Mahlers III. und von Bach die Matthäuspassion sowie die Messe in h-Moll (Dona Nobis Pacem). Außerdem gastieren das Tschechische Nationalballett mit Neumeiers Endstation Sehnsucht und das Stuttgarter Ballett mit seiner Kameliendame. Diverse andere Aufführungen und zwei Galas sowie Kinoaufführungen im Metropolis Kino runden das Programm ab. Vieles ist schon ausverkauft, für einzelne Vorstellungen gibt es aber noch Karten.

Dr. Ralf Wegner, 31. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Die Glasmenagerie, Choreographie von John Neumeier nach Tennessee Williams, Hamburgische Staatsoper, 3. November 2021

Hélène Bouchet, Ballett von John Neumeier, Choreographie Die Glasmenagerie nach Tennessee Williams, Hamburger Staatsoper, 10. November 2021

Hamburg Ballett, John Neumeier, Glasmenagerie 3. November 2021

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