Tiefenspannend und emotional überwältigend

Hamburg Ballett, John Neumeier, Glasmenagerie  3. November 2021

Foto: Ralf Wegner

Staatsoper Hamburg, 3. November 2021
Hamburg Ballett, Glasmenagerie

Nach der Vorstellung: Olivia Betteridge (Betty, Jims neue Freundin), Lizhong Wang (Ensemble), Marc Jubete (Malvolio, Barmann), schräg dahinter Yaiza Coll (Ensemble), Patricia Friza (Amanda Wingfield, Lauras und Toms Mutter), Christopher Evans (Jim O’Connor, Toms Freund), Alina Cojocaru (Laura Rose Wingfield), Luciano Di Martino (Musikalische Leitung), Andrej Urban (Tom als Kind), Félix Paquet (Tom Wingfield), schräg dahinter Stacey Denham (Ozzie, Kindermädchen von Tom und Laura), Edvin Revazov (Tennessee, Toms Alter Ego), David Rodriguez (Das Einhorn)

Man muss sich auf die Einzelschicksale und deren Verstrickungen in das Leben, auf ihre Hoffnungen und Enttäuschungen einlassen. Das erfordert vom Zuschauer Konzentration auf die von Neumeiers Ensemble überzeugend ausgeloteten seelischen Innenwelten der Protagonisten.

von Dr. Ralf Wegner

Im Januar vor einem Jahr sah ich dieses Ballett zum ersten Mal, war zunächst skeptisch, wurde dann aber emotional überrollt. Von der großartigen Leistung Alina Cojocarus als Laura, von dem beeindruckenden Können der anderen Tänzerinnen und Tänzer, vor allem aber von der genialen Choreographie Neumeiers einschließlich des von ihm ersonnenen Bühnenbildes, der Kostüme und der Lichtregie.

Oben steht Tiefenspannend, d.h. der Reiz des Stücks liegt nicht in narrativen, nach vorn drängenden, die Longitudinalspannung steigernden Szenen; vielmehr muss man sich auf die Einzelschicksale und deren Verstrickungen in das Leben, auf ihre Hoffnungen und Enttäuschungen einlassen. Das erfordert vom Zuschauer Konzentration auf die von Neumeiers Ensemble überzeugend ausgeloteten seelischen Innenwelten der Protagonisten.

Allen voran wieder die vom Tanz beseelte Alina Cojocaru; wie sie diesem körperlich behinderten, schüchternen, in sich gekehrtem Mädchen innere Kraft und Ausdruck verleiht, auch im Hoffen auf ein erfüllteres Leben, auf jemanden, der sie liebt, und trotz allem nicht verzweifelt, war wieder großartig.

Daneben beeindruckte Patricia Friza mit der ihr eigenen, leicht extrovertierten, Überschwang und Verhärmtheit auslotenden Darstellung der alleinerziehenden, sich um ihre Kinder sorgenden und an frühere, bessere Zeiten denkenden Amanda Wingfield. Christopher Evans glänzte als freundlich oberflächlicher, die Sympathien der Wingfields auf sich ziehender Jim. Die Pas de deux mit Cojocaru und der auch ihm nahe gehende Abschied von Laura waren einige der an Höhepunkten reichen Aufführung.

Félix Paquet wanderte als Lauras Bruder Tom zwischen den Welten, immer beobachtet von einem ausdruckstarken Edvin Revazov als Alter Ego Tennessee. Im Haus, bei seiner Schwester Laura, hielt Tom am Ende nichts mehr. Jim hatte ihn abserviert. Er eiferte dem Vater (ebenfalls Revazov) nach, der die Familie nach kurzem Zwischenspiel im Stich gelassen hatte. Das Zeichnen war Tom wichtiger, als für Mutter und Schwester in der Schuhfabrik zu arbeiten. Laura blieb schließlich nur noch ihre Glastiersammlung, die Glasmenagerie, versinnbildlicht durch das Einhorn (David Rodriguez).

Neben den ausgezeichneten Einzelleistungen überzeugten zahlreiche Ensembleszenen wie die zur Arbeit eilenden Passanten (Unterwegs zur Arbeit), die Beschäftigten in der Schuhfabrik mit einem sich vor der Arbeit drückenden Tom (Die Continental Schuhfabrik) oder der Schreibmaschinenkurs (Rubican’s Business College), an dem Laura mit frustrierendem Ergebnis teilnimmt. Bemerkenswert sind auch die Szenen Im Kino, das Paradies Tanzlokal nebenan und Malvolio’s Magic Bar. Die von Neumeier gewählten Musikstücke, vor allem jene von Philip Glass und Charles Ives, unterstützten den elegisch-retardierenden Charakter der Choreographie.

Neumeiers Glasmenagerie nach dem Stück von Tennessee Williams wird bis zum 20.11. noch fünfmal aufgeführt, am 10. und 20. November mit Hélène Bouchet als Laura. Alle Aufführungen finden unter 2G-Bedingungen statt. D.h. alle Plätze werden wieder besetzt, Maske ist nicht mehr erforderlich. Bei der gestrigen Aufführung wurde deshalb eine Atemschutzmaske nur noch von knapp 10% der Besucher getragen.

Dr. Ralf Wegner, 3. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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