Carmina Burana © B2B
La Fura dels Baus inszeniert in Carl Orffs Carmina Burana ein gelungenes Spektakel
Kölner Philharmonie, 18. Juli 2023
Carl Orff (1895-1982) – Carmina Burana. Szenische Kantate in der Fassung für Schlagwerk und Klavier
Carlus Padrissa (La Fura dels Baus), Regie und Bühnenbild
César Belda, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
„CARMINA BURANA (verlegt vom 2. Juli 2020 + 8. Juli 2021 + 30. Juni 2022)“ las man, wenn man eine Karte für diese Veranstaltung des nunmehr 34. Kölner Sommerfestivals erwerben wollte. Endlich sind große Veranstaltungen wieder möglich! Acht Termine sind angesetzt, die Premiere ist ausverkauft, und auch die anderen Termine sind gut verkauft. Zuletzt war das nicht immer bei klassischen Konzerten der Fall. Klassisches Konzert? Nicht ganz. Es ist eher eine Show. Aber Carmina zieht noch immer. Die meisten Menschen dürften wegen Orffs Musik gekommen sein, möglicherweise nicht wegen La Fura dels Baus. Oder einfach wegen des „audiovisuellen Gesamtkunstwerks“, so der PR-Text, der sich am Wagnerschen Begriff orientiert und auch sonst nicht mit Superlativen geizt. Aber es ist in der Tat ein Gesamtkunstwerk aus Text, Musik, Bühnenbild, Kostümen, Licht, Choreographie und Videoprojektionen.
Inszenierungen der „katalanischen Theatertruppe“, wie sie oft bezeichnet wird, hatte ich bislang zweimal erlebt. Einmal, im Sommer 2005, eine recht langweilige Zauberflöte am Teatro Real in Madrid, bei der sich nach Herzenslust am ohnehin nicht ganz einfachen Libretto vergangen wurde; zum anderen eine faszinierende Reise, nämlich „Michaels Reise um die Erde“ aus dem 2. Akt von Karlheinz Stockhausens „Donnerstag aus Licht“, u.a. mit Nicola Jürgensen (Bassetthorn) und Marco Blaauw (Trompete). Auch damals schwebte jemand an einem Kran durch die Kölner Philharmonie, glaube ich, dazu gleich mehr.
Das Publikum strömt hinein, es wirkt übrigens sichtbar entspannter, und nach erstem Eindruck auch höflicher, als so mancher Gürzenich-Abonnent: Man sagt danke und lächelt, wenn man in die Reihe gelassen wird. Wo sind diese Leute, wenn sie nicht zum Kölner Sommerfestival gehen? Vielleicht gehen sie eher zum Jazz oder in die Kölnarena.
Dann kommt eine lebhafte Ansage, im Tonfall „Wir sind alle megagut drauf“, aber den Inhalt – Handys bitte ausschalten, nicht fotografieren – wünschte man sich auch vor Veranstaltungen im Kerngeschäft dieses so schönen Hauses, den klassischen Konzerten.
Der Saal sieht anders aus als sonst, als wir ihn betreten, das Licht gedimmter, viele Sitze sind mit schwarzem Stoff verhangen. Auch um die und auf der Bühne, die irgendwie unaufgebaut wirkt, ist viel schwarzer Stoff: ein wenig, wie man es von Jazzkonzerten hier kennt. Vorne, mittig, sehen wir eine riesige, weiße, kreisförmige, durchsichtige Leinwand, auf die später die Videokunst projiziert wird. Man erahnt die Schlaginstrumente dahinter, die beiden Konzertflügel, dann schließlich eine Art Kran.
Vor Beginn der Show sind erklärende Texte über die „Beurer Loblieder“ zu lesen, darunter der Halbsatz, der zur Überschrift dieses Berichts wurde; zudem ist das Schicksalsrad zu sehen, das sich immer weiter in unser aller Leben dreht. O Fortuna!
Wer jedoch glaubt, dass um Punkt acht das Licht gedimmt wird, die 47 Mitwirkenden brav die Bühne betreten und um 20:01h „O Fortuna“ erklingt, der kennt La Fura bzw. dessen Mitgründer Carlus Padrissa schlecht, der dieses Spektakel verantwortet. Diese Carmina Burana sind nichts für Puristen, denn sie beginnen mit einem etwa 20minütigen Prolog. Ein Flötensolo (Inés Fernández) erklingt, dann sieht man weißgewandete, geschminkte Gestalten, die sich gleich zum Chor (12 Damen links, 12 Herren rechts, alle jung) formieren werden. Zuvor gehen sie, hasten sie mitunter, durch den Saal, ihre Taschenlampen blitzen durchs Publikum, die Musik wird lauter, man meint irgendwann, bereits den „In taberna“-Rhythmus zu erkennen. Schließlich dann, endlich, „O Fortuna“.
„Cool, oder?“, fragt mein Hintermann seinen Begleiter während des ersten Zwischenapplauses, den es nach fast jeder Nummer geben wird (und übrigens beinahe auch nach jeder Strophe des „Ecce gratum“). „Nummer“, ja, auch wenn man ausnahmsweise mal mit Recht „Lied“ statt „Satz“ sagen dürfte. Denn es hat auch etwas von einer exzellenten Zirkusaufführung. La Fura des Baus setzt in dieser Inszenierung, dieser Choreographie, diesem spectaculum, Assoziationen frei. Natürlich wirkt das Ganze überfrachtet, zumal die ausgiebige Videoarbeit noch eine zusätzliche Assoziations-Dimension im Gehirn freisetzt. Aber lässt man sich darauf ein, und findet sich damit ab, dass man nicht alles wird aufnehmen können, hat man sehr viel Freude.
Ich war gedanklich mal bei den Beueler Wäscherinnen an Karneval, mal auch bei Monty Python (der berühmte Fuß in Terry Gilliams Animationen!); und sind die eingeblendeten Facebook-Logos, das Smartphone, das Euro-Zeichen nicht womöglich Sozial- oder Kapitalismuskritik?
Dann gibt es die lasziven bis erotischen Elemente, und man denkt, ja, so manches daran wäre mal skandalös gewesen. Heute ist es irgendwo zwischen ästhetisch und amüsant angesiedelt. Es schockiert nicht mehr, wenn der Abt auf einen Sitz klettert und sein Gewand über ein Publikumsmitglied in der ersten Reihe stülpt, dessen Gattin sich dabei königlich amüsiert. In den USA würde ich das nicht so aufführen. Das „Ego sum abbas“ wird übrigens zur Mitsingnummer, ein schönes Detail, vereinzelte Herren im Publikum werden abgefeiert, wenn sie den Text des Abtes übernehmen.
Schocken kann da eher noch der andere Katalane, der von Jesuiten erzogene Calixto Bieito: Damals, zu Beginn von Valle-Incláns Barbarischen Komödien, war das Dubliner Abbey Theatre ausverkauft, nach Ende der vier Stunden jedoch, während derer alles Schreckliche gezeigt wurde, was Menschen einander antun können, halbleer.
Hier, bei Carmina Burana, wird nach allen Regeln der orgiastischen Kunst gesoffen und rumgehurt. Wie es sich gehört. Das Balzen, die Frühlingsgefühle, unsittliches Berühren seiner selbst oder Anderer in der Öffentlichkeit! Und à propos Orgie: La Fura zeichnet auch für die brillante Choreographie der Massenszene am Ende von Tom Tykwers Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders verantwortlich.
Eine Frau „schwimmt“ in einem achteckigen Aquarium, durch den hautfarbenen, enganliegenden Anzug wirkt sie fast nackt, ihre Scham ist durch ein Blättchen bedeckt, das ein Feigenblatt groß wirken ließe. Und zum Amüsement der vorderen Reihen wird ziemlich viel Wasser verspritzt. Mein Begleiter grinst mir zu: „Wehe, das läuft unten in den neuen Steinway rein!“ (Die Konzertflügel befinden sich in der Philharmonie unter der Bühne.) Auch in der neunten Reihe wird es nass, mein Notizbuch bekommt Wasser ab. Ich denke an Gerhard Stadelmaier, aber der Tatbestand reicht nicht für einen „Angriff auf einen Kritiker“. Zwinkersmiley.
Das Wasser wird irgendwann rot wie Blut sein, rot wie Wein. Und mit steigendem Alkoholpegel wird es derber. Eine meiner Lieblingsnummern, „In taberna“, wird nur noch vom tollen „Puer cum puellula“ und dem „Veni, veni, venias“ getoppt.
Die vier Bühnentechniker leisten ganze Arbeit, verausgaben sich geradezu, vor allem beim Bewegen des schweren Krans, in dem erst der geschlachtete Schwan (Der Schwan im Kran, haha) als auch die „Dulcissime“-Sopranistin singend durch den Saal schweben. Die Textverständlichkeit ist nicht immer ganz perfekt, aber wer ist schon noch des Mittellateinischen oder gar des Mittelhochdeutschen mächtig…
Trotz toller Leistung der Musikerinnen und Musiker, insbesondere an den beiden Flügeln (María del Puerto González und Leonardo Milanés), vermisste ich schon ab und an das volle Orchester. Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst mal die schöne Erfahrung machen durfte, in diesem Stück mitzuspielen (und so gern die Geige im „Swaz hie gat umbe“ zur Gitarre umfunktioniert hätte, aber leider war die Konzertmeisterin zu bieder, wir durften nicht). Aber Elemente wie das quäkende Fagott im „Olim lacus colueram“, dem „Schwanengesang“, kann auch durch eine noch so sehr erweiterte Klavierfassung nicht adäquat ersetzt werden. Die Leitung lag in den elegant schlagenden Händen von César Belda.
Das Rad des Schicksals dreht sich weiter. Wie auch das (Hamster-)Rad des Lebens. „Machen wir das nochmal?“, fragt eine junge Frau ihre ebenso junge Begleiterin beim Hinausgehen. „Unbedingt!“, so die enthusiastische Antwort. Machen die Damen daraus eine Tradition, dann sind sie gewiss auch beim 68. Kölner Sommerfestival dabei. Wünschen wir’s ihnen!
Dr. Brian Cooper, 19. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at