Pathys Stehplatz (38): Gstaad Conducting Academy – Der Weg an die Spitze ist steinig

Pathys Stehplatz (38): Gstaad Conducting Academy  klassik-begeistert.de, 19. August 2023

Gstaad Conducting Academy © Jürgen Pathy

„Let it happen“, scheint so das Zauberwort zu sein. Das ist es, was Mirga Gražinytė-Tyla ihren Schützlingen unbedingt mit auf den Weg geben will. Viel mehr geschehen lassen also, nicht alles unbedingt erzwingen wollen. In Gstaad hat sie gerade die Gstaad Conducting Academy geleitet. Ein Nachwuchsprogramm, das man beim Schweizer Klassikfestival vor einigen Jahren ins Programm genommen hat. Das Ziel: Junge Dirigenten auf ihrem möglichen Weg an die Spitze unterstützen.

von Jürgen Pathy

Dort ist Mirga Gražinytė-Tyla schon länger angelangt. 2016 hat die junge Litauerin für internationales Aufsehen gesorgt. Als erste Frau hatte die zierliche Person damals den Chefposten beim City of Birmingham Symphony Orchestra übernommen. Ein renommierter Chefsessel, den zuvor schon Größen wie Sir Simon Rattle oder Andris Nelsons bekleidet hatten.

Von ihrer Erfahrung kann der Nachwuchs natürlich immens profitieren. 10 aufstrebende Jungdirigenten und – Dirigentinnen bitte schön, um den Nerv der Zeit nicht zu beleidigen. Gendern gehört mittlerweile ja zum guten Ton. Die dürfen sich drei Tage lang austoben. Eng geschnürt in einen straffen Zeitplan. „You have two more minutes“, mahnt die junge Litauerin, die ansonsten aber auf erfrischender Augenhöhe mit dem Nachwuchs agiert. Muss einfach sein. 30 Minuten Slots hat man für jeden der Nachwuchsdirigenten eingeplant. Probenzeit ist vormittags von 09:30 Uhr bis 13:00 Uhr; danach eine Stunde Mittagspause; um 13:30 Uhr geht es pünktlich weiter, wie ein Schweizer Uhrwerk. Um 15:10 Uhr ist Schluss. Da darf man keine Zeit verlieren.

Der Mut der Jugend

Maximilian Haberstock nutzt seine zwei Minuten effizient. „Die zweiten Geigen bitte alleine“, wagt er einen Schritt, der bei Orchestermusikern nicht so beliebt ist. Um am Legato zu feilen, mit dem der blutjunge Münchner noch nicht ganz glücklich scheint. Wer weiß, wie Orchestermusiker ticken, dem ist bewusst: Das hassen sie wie die Pest. Karajan hatte das gerne gemacht. Damals, als die Zeiten noch ganz andere waren.

Heute muss man schon sehr behutsam mit einem Orchester arbeiten. Und, das erfahre ich am Bühnenrand, wenn man sich schon so weit hinauslehnt, dann muss das Ganze auch Substanz haben. „Ein Orchestermusiker merkt sofort, ob das aufgesetzt oder authentisch ist“, erzählt mir Frank Stadler. Ein Konzertmeister des Mozarteum Orchesters Salzburg, den es anscheinend privat nach Gstaad gezogen hat. Mit einem seiner Sprösslinge, Windelalter, streift er durch das große Festival-Zelt in Gstaad.

Mirga Gražinytė-Tyla scheint begeistert von Haberkorn. Während der im Maßanzug mit erhabener Silhouette in Beethovens „Pastorale“ taucht, strahlt die Litauerin übers ganze Gesicht. Ein Küken ist der natürlich noch, ohne hier irgendjemandem auf den Schlips treten zu wollen. Mit 19 Jahren kann man das von einem Dirigenten schon noch mit ruhigem Gewissen behaupten. Dass der sich überhaupt schon ins Haifischbecken wagt, verdient den größten Respekt. Nichts anderes ist so ein Orchester, das bei der Gstaad Conducting Academy im Schnitt auch noch sehr jung wirkt. 25, maximal 30 dürfte der sein, müsste ich nach Augenmaß urteilen. Verscherzen, darf man es sich aber auch mit dem nicht.

Die Zügel auch mal locker lassen

Das Wichtigste sei ein „Geben und Nehmen“. „Sonst klappt das nicht, dass große Musik entsteht“, bringt es Johannes Schlaefli auf den Punkt. Der Schweizer ist der zweite im Bunde, der neben Mirga Gražinytė-Tyla all seine Erfahrung mit dem Nachwuchs teilt. Als Chefdirigent des Collegium Musicum Basel und Professor für Orchesterleistung an der Zürcher Hochschule der Künste lehrt er seit Jahrzehnten die Geheimnisse des Dirigierens. Head of Teaching, ist seine offizielle Bezeichnung in Gstaad. Seine Vorgehensweise wirkt ein wenig zurückhaltender, distanzierter, als die von Mirga Gražinytė-Tyla. In einem sind sich aber beide einig.

„Viel mehr nehmen, viel weniger tun“, unterbricht die Litauerin einen der Nachwuchshoffnungen. In deutscher Sprache, wo sie ansonsten überwiegend im feinen Oxford-Englisch mit den Schülern kommuniziert. Wer diese Regel missachtet, bekommt das auch schnell zu spüren. Vor allem vom Konzertmeister, der generell eine wichtige hierarchische Position in so einem Orchester besetzt. Beim Gstaad Festival Orchestra vielleicht sogar eine noch wichtigere, als bei anderen renommierten Klangkörpern.

Da lässt nicht nur der Umstand vermuten, dass Vlad Stǎnculeasa als einziger des Orchesters auf dem Programmzettel steht, auch seine Präsenz am ersten Pult wirkt schon beeindruckend. Da darf man als Dirigent keine Schwäche zeigen. Überhaupt, wenn der Rumäne mal den Bogen sinken lässt, weil er wieder die Faxen dicke hat. In solchen Situationen steht dann alles auf dem Spiel.

Da muss man als Dirigent schon seinen Mann – oder Frau – stehen. Vor allem, wenn sich dann noch weitere Musiker in die Diskussion einschalten, und die Autorität des Dirigenten plötzlich auf dem zentralen Prüfstand steht. Der Stimmführer der Celli, der nach Nachfrage irgendetwas in die Noten kritzelt. Der Solo-Oboist, der plötzlich aus dem Hintergrund ins Rampenlicht drängt und nach Erklärungen sucht. Und zu guter Letzt dann auch noch eine Solistin, die einen großen Namen vor sich trägt und beim Schumann Violinkonzert nicht ganz den richtigen Ton findet. „Das macht gar nichts“, sagt Patricia Kopatchinskaja. Man dürfe als Musiker auch scheitern, erzählt mir die gebürtige Moldawierin, die in Gstaad zu den Fixsternen zählt, auf dem Fußweg zum Bahnhof.

Schwäche zeigen, ist verboten

Als Dirigent geht das nicht wirklich. Wer sich in solchen Situationen die Schneid abkaufen lässt, der hat schon verloren. „Fake it till you make it“, lautet eine beliebte Lebensweisheit, die selbsternannte Gurus auf sozialen Medien gerne promoten. Erwecke zumindest den Anschein, solange du es noch nicht bist. Im Privatleben oder auf Instagram vielleicht ein zielführendes Konzept. Als Dirigent absolut nicht möglich. „Wenn man nur eine Fassade aufsetzt“, dann ist man schnell unten durch, bestätigt nochmals Frank Stadler. Authentisch sein, ist das Um und Auf. Das ist eine Grundvoraussetzung für einen Dirigenten.

Dazu noch: Die natürliche Autorität eines Diktators, gepaart mit der Empathie und Feinfühligkeit eines zerbrechlichen Hochsensiblen. Am besten auch noch die stoische Ruhe eines Zenmeisters. Und wenn möglich, obendrauf noch eine ungeheure Portion an Charisma, damit die Marketingmaschinerie so richtig ins Rollen gerät. Klingt wie etwas Unmögliches, wie die berüchtigte eierlegende Wollmilchsau? Ganz genau. Deshalb sind hervorragende Dirigenten so eine seltene Spezies. Es benötigt einfach eine außergewöhnliche Begabung, um es als Dirigent bis an die Spitze zu schaffen. Teodor Currentzis, sei an dieser Stelle stellvertretend genannt.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 19. August 2023, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

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