LSO Philharmonie-Berlin © Fabian Schellhorn
Gustav Mahler: Sinfonie Nr.9
London Symphony Orchestra
Leitung: Sir Simon Rattle
Berliner Philharmonie, 28. August 2023
Das London Symphony beim Berliner Musikfest
von Kirsten Liese
Ich gebe zu, ich wurde in diesem Jahr schon verwöhnt mit Mahler. Mehrfach durfte ich seine dritte Sinfonie in grandiosen Einstudierungen unter Christian Thielemann und Teodor Currentzis erleben.
Die Neunte ist mindestens ein ebensolcher Koloss, vielleicht sogar ein noch größerer. Allein der erste gewaltige Satz ist ja schon eine Sinfonie für sich, was meiner Meinung nach trotzdem keine unruhige Pause von mehreren Minuten bis zum zweiten nach sich ziehen sollte wie nun beim Berliner Musikfest, wo Simon Rattle zur Trinkflasche griff und die Musiker des London Symphony eifrig nachstimmten. Aber das nur am Rande.
Jedenfalls habe ich Mahlers letzte vollendete Sinfonie, uraufgeführt 1909 in Wien durch Bruno Walter (Mahler war bereits verstorben und hat sie nicht mehr erlebt), im Konzertsaal nur selten in herausragenden Interpretationen gehört. Eigentlich „nur“ unter Claudio Abbado, seine einmalige Einstudierung in Luzern, die sich auf DVD und YouTube noch abrufen lässt, gilt für mich bis heute als unübertroffen. So gesehen konnte ich es auch gut nachvollziehen, als mir Christian Thielemann schon vor längerer Zeit sagte, Mahlers Neunte werde er in Erinnerung an Abbado voraussichtlich nicht so bald angehen.
Wenn nun allerdings kein Spitzendirigent mehr für dieses Werk zur Verfügung stünde, wäre das sehr schade. Simon Rattle hat in den vergangenen Jahren zurecht viel Beachtung für seine Mahler-Interpretationen gefunden. Er scheint der richtige Mann dafür. Unvergessen ist mir seine Sechste, die er weiland mit den Berliner Philharmonikern zum 50-jährigen Bestehen der Salzburger Osterfestspiele brachte. Und schon allein die Neunte ohne Noten zu dirigieren, wie er es vermag, ist eine sagenhafte Leistung, vor der ich meinen Hut ziehe.
Den Berliner Abend erlebte ich gleichwohl als durchwachsen: Großartig geriet vor allem das finale Adagio, in dem es sehr kantable, berührende Strecken gab, in denen die Streicher auch einmal ganz leise musizierten. Sehr gelungen auch der Beginn des verkappten Ländlers im zweiten Satz.
Der dritte und vor allem der erste Satz aber wirkten dann bei allem Aufruhr doch dynamisch und – mit Ausnahme der gelegentlich gestopften Trompeten – auch farblich etwas monochrom. Keine Frage, das Andante comodo, der Kopfsatz, wird bestimmt von einem großen inneren Drama, folglich geht es insgesamt sehr laut darin zu. Umso mehr aber braucht es angesichts solcher klanglichen Ballungen eine klare Struktur und einen großen Bogen über allem, ansonsten zerfällt die Musik. Ein wenig war das hier der Fall. Da türmten sich immer wieder riesige Klangmassen auf, so dass sich bei aller Überwältigung jedoch kaum noch ausmachen ließ, wie ein Motiv ins andere greift, Mittelstimmen gingen unter. Leiser wurde es nur dann, wenn weniger Instrumente gleichzeitig spielten und einzelne solistisch hervortraten, sei es die viel beschäftigte Flöte (trefflich mit staunenswert langem Atem: Gareth Davies), Hörner, Posaunen oder (gestopfte) Trompeten. Hier und da stachen aus dem dichten Dickicht immer mal wieder einzelne Themen, Motive oder Melodien heraus, die dann große Aufmerksamkeit erweckten, aber dann tauchte man wieder ab in ein allgemeines Getöse. Und so wurde Rattle hier zu dem, was Sergiu Celibidache einmal mit „Langstreckenläufer im (Mezzo)-forte bezeichnete“.
Wenn man schon innerhalb von zehn Minuten die dynamische Klimax erreicht hat, ist es eben doch ein bisschen zu früh. Weise ist, wer vor den großen Steigerungen immer mal wieder ein paar Gänge zurückschaltet.
Einen ähnlichen Höreindruck bestimmte die trotzige Rondo-Burleske. Wobei allerdings spätestens an dieser Stelle einmal jedes einzelne Mitglied des London Symphony gewürdigt sei, musiziert doch jeder ungemein engagiert, angefangen von den hoch motivierten Stimmführern Roman Simovic (erste Violinen) und Jane Atkins (Bratschen). Auch die Bläsersolisten waren jeder für sich eine Wucht, allen voran Trompeter, Posaunen, Hörner und Tuba, makellos in der Intonation, brillant im Klang. Eine Wahnsinnsleistung, wenn man bedenkt, wieviel Verantwortung auf jedem einzelnen von ihnen ruht. Nur ein falscher Ton könnte in solch exponierten Soli fatal viel anrichten.
Vor allem aber im zweiten und vierten Satz – ich deutete es schon an – gelang eine beglückend erfüllende Wiedergabe. Das begann schon mit der von den Fagotten eingeleiteten Skala aufwärts im zweiten, elastisch und im moderaten Zeitmaß vor dem Einsatz der betont behäbig musizierenden Streicher. Das entsprach eben genau dem, was man sich unter „täppisch und derb“ vorstellt.
An anderer leiser Stelle tönen die Fagotte zusammen mit dem Kontrafagott so fahl und düster, dass man sich fast an Wagners Siegfried respektive dem Vorspiel zur Neidhöhle erinnert fühlt. Wurde mir zuvor noch nicht so bewusst.
So richtig magisch wird es dann aber im finalen Adagio, ohnehin für mich einer der schönsten Sätze in Mahlers Sinfonik. Um Abschied kreist diese Musik, als weise sie schon auf den Tod des Komponisten voraus. Entsprechend tönt sie elegisch, resignativ und jenseitig. Das Wort „morendo“, also „sterbend“, hat Mahler gleich mehrfach in die Partitur geschrieben, deren Stimmen sich zunehmend bis ins Nichts auflösen.
Als ich vor vielen Jahren Abbado damit hörte, dachte ich, das könne nur er so genial empfinden, weil er selbst aufgrund seiner schweren Erkrankung der Welt fast schon abhandengekommen war und beim Musizieren schon so wirkte, als sei er in andere Sphären entrückt.
Er bleibt auch aus heutiger Sicht noch unübertroffen aus meiner Sicht, aber Rattle, der das gesamte Konzert über gleichzeitig sehr kontrolliert und vital seitens seiner Zeichen wirkt, bewegt sich da schon sehr nah ran. Schmerzlich schön und verklärt jedenfalls tönt dieses „Adagissimo“ des Schlussteils dieser Musik, von der Bruno Walter treffend sagte, sie schwebe zwischen „Abschiedswehmut und einer Ahnung des himmlischen Lichts“. Besser kann man das nicht formulieren.
Auf das Publikum überträgt sich das atmosphärisch, an sehr leisen Stellen ist es auch mucksmäuschenstill im Saal, alles folgt dem musikalischen Geschehen gebannt. Nur zum Ende hin klingelt der Handywecker meines Sitznachbarn. Zum Glück nicht bis in die allerletzten Takte hinein. Nach dem Verebben der Musik im Nirgendwo gelingt es Rattle, noch einige Minuten Stille einzufordern.
Danach feiert jeder jeden, das Publikum Dirigent und Orchester, der Dirigent seine Musiker, die Musiker sich untereinander. So eine Neunte hört man nicht alle Tage.
Kirsten Liese, 29. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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