Einem erhabenen, modernen Bruckner zollt das Kölner Publikum Respekt

London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent  Kölner Philharmonie, 7. Dezember 2022

Foto: Sir Simon Rattle, Kölner Philharmonie © Oliver Helbig

Sir Simon Rattle und das LSO mit Bruckner und Sibelius in der Philharmonie.

Jean Sibelius (1865-1957) – Die Okeaniden. Tondichtung für großes Orchester, op. 73

Jean Sibelius – Tapiola. Tondichtung für großes Orchester, op. 112

Anton Bruckner (1824-1896) – Sinfonie Nr. 7 E-Dur


London Symphony Orchestra
Sir Simon Rattle, Dirigent


Kölner Philharmonie
, 7. Dezember 2022

von Brian Cooper, Bonn

Verehrte Leserschaft, kennen Sie den kölschen Exodus? Das Phänomen gibt’s zwar auch andernorts, aber in der Kölner Philharmonie macht man das besonders gerne und in Scharen. Und zwar verlässt man nach einem grandiosen Konzert, und gerne auch währenddessen, fluchtartig den Saal. Letzter Ton, und ab. Der Mantel, das Parkhaus, die Bahn, Sie wissen schon.

Beim jüngsten Kölner Konzert des London Symphony Orchestra (LSO) unter Leitung seines scheidenden Chefs Sir Simon Rattle geschah jedoch Bemerkenswertes, ja Unerhörtes: Nachdem der letzte E-Dur-Akkord der 7. Sinfonie von Anton Bruckner verklungen war, erhob sich das Publikum nahezu geschlossen, spendete begeistert warmen Applaus, und nur ganz, ganz wenige Menschen ließen den Respekt vor diesem so beeindruckenden Orchester vermissen, indem sie ihm umgehend den Rücken kehrten und abhauten.

Auch die Huster von Köln waren zugegen, allerdings nicht in Fraktionsstärke, wie noch einige Tage zuvor beim Chamber Orchestra of Europe. Es ist Grippesaison, aber beim LSO-Konzert hörte man das nicht sonderlich. Mir schien es an diesem Abend ein besonders begeisterungsfähiges Publikum zu sein, was man nicht zuletzt am dreimaligen Zwischenapplaus (nun ja) beim Bruckner merkte. Insgesamt jedoch honorierte das Publikum eine große Leistung der Londoner mit Respekt und Freude.

Foto: Dr. Brian Cooper

Als Sir Simon die Berliner Philharmoniker verließ und 2017 nach London ging, sprach man von einem match made in heaven. Diese Traumehe ist nun schneller vorbei als bei so manchem Promipaar; leider muss man daher allmählich vom scheidenden Music Director sprechen, wie oben erwähnt, denn er wechselt zum BRSO, das ja immer schon eher zum Dirigententypus Grandseigneur geneigt hat.

Rattles Bruckner ist nicht immer ganz nach meinem Geschmack. Das ist natürlich sehr subjektiv und hängt vielleicht in erster Linie mit den Tempi zusammen, die er an manchen Stellen wählt. Das Ende des ersten wie des letzten Satzes könnte man einfach noch mehr auskosten. Rattle dirigiert diese Schlüsse zügig, geradezu modern – zumindest, wenn man im Vergleich an die Hohepriester der Langsamkeit unter den Brucknerianern denkt, wie Sergiu Celibidache.

Allerdings gibt es auch jüngere Dirigenten, die sich mehr aufs Zelebrieren verstehen: Wer jemals das Glück hatte, Bruckners Vierte unter Yannick Nézet-Séguin zu erleben, der weiß, was für einen geradezu körperlichen Effekt das Auskosten jeder Tremolo-Note am Ende der Sinfonie haben kann. Es ist kaum auszuhalten, man ist verausgabt, als hätte man selbst mitgespielt.

Rattle hingegen zieht an solchen Stellen gern mal das Tempo an, die ersten Violinen spielen jede Note der so wichtigen Brucknerschen Begleit-Arabesken perfekt, aber in einem Affenzahn. Es ist richtig harte Arbeit, was sie da machen, und es ist leider etwas zu schnell vorbei.

Allerdings war diese Siebte dennoch ein Ereignis. Die vier Wagner-Tuben spielten grandios erhaben auf, wie auch das gesamte Blech, mit nur ganz wenigen Abstrichen. Gareth Davies’ Flöte war den gesamten Abend über nur ein Highlight in der perfekt disponierten Holzsektion. Und Gänsehautmomente gab es auch ab und an, etwa in der absolut elektrisierenden Reprise des Scherzos.

Der langsame Satz, diese ausgedehnte Trauer in Tönen, ist schwer zu dirigieren. Ein Meister wie Sir Simon beherrscht natürlich die Architektur des langen Satzes; er kann Bögen spannen; er verlangt Intensität und bekommt sie auch. Manchmal greift er fast ins Konzertmeisterpult, mit der für ihn so typischen Mimik des entschlossenen Forderns. Sehr bemerkenswert ist auch der Einsatz der linken Hand, die er tatsächlich manchmal ähnlich einsetzt wie sein unmittelbarer Vorgänger beim LSO, Valery „Old Flatterhand“ Gergiev: mit Zitterfingern und Luftvibrato.

Vor der Pause gab es die beiden Tondichtungen von Sibelius, die man zwei Tage zuvor auch in Frankfurt gegeben hatte, Die Okeaniden und das doppelt so lange Tapiola. Es ist hochinteressant, zwei eher selten gespielte Werke innerhalb von zwei Tagen nochmal zu hören. In Köln waren es schon fast alte Bekannte. Der Klang des Orchesters ist nobel; es ist, als hätten sie nie etwas Anderes gespielt. Grandios etwa, wie zu Beginn der Okeaniden Gareth Davies und Patricia Moynihan ihre perlenden Flötenlinien synchron emporschwangen, und das in einer Lautstärke, die man nicht für möglich hält.

Es war seinerzeit eine Sibelius-Aufnahme mit dem CBSO, durch die ich auf Simon Rattle – längst noch nicht „Sir“, und längst noch nicht weltberühmt – aufmerksam wurde. Das erste Orchestertutti im Violinkonzert mit Nigel Kennedy hatte mich förmlich hinweggefegt. In Frankfurt wie in Köln untermauert nun die Klangpracht, die Rattle auch im Sibelius mit seinem Weltklasse-Sinfonieorchester zu erzeugen wusste, einmal mehr, dass er zu den bedeutendsten Sibelius-Dirigenten unserer Zeit gehören dürfte. Nein: gehört.

Und wie steht es mit Bruckner? Eine Neunte im Wiener Musikverein, auf Rattles Abschiedstournee mit den Berlinern, empfand ich als fantastisch und sehr intensiv. Eine Achte in Paris ließ mich auf hohem Niveau ein wenig unterkühlt zurück. Eine Sechste, irgendwo, ist nicht mehr in Erinnerung. Nun also die Siebte in einer großartigen Aufführung in Köln, wenngleich eine von vielen in meinem an Brucknerschen Siebten nicht gerade armen Hörerleben. Die Erinnerung daran wird zumindest für eine gewisse Zeit bleiben.

Dr. Brian Cooper, 8. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent, Sibelius und Rachmaninow Alte Oper, Frankfurt, 5. Dezember 2022

London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent Musikverein Wien, 4. Dezember 2022 

London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent Wolkenturm, Grafenegg, 26. August 2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert