Mit Sibelius können Sir Simon Rattle und sein Orchester wahrhaft beeindrucken

London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent  Musikverein Wien, 4. Dezember 2022 

Foto: London Symphony Orchestra, Simon Rattle, Dirigent © Marco Borelli

War Bruckner vielleicht nicht der allergrößte Wurf Sir Simon Rattles; aber mit Sibelius konnten der Maestro und das Orchester wahrhaft beeindrucken. Hoffentlich kommt es da bald zu einer Fortsetzung. Rattle ist heute in Sachen Sibelius unangefochten mit an der Spitze.

Jean Sibelius:
Die Okeaniden, Tondichtung op. 73
Tapiola, Tondichtung, op. 112

Anton Bruckner:
Symphonie Nr. 7 in E-Dur

London Symphony Orchestra
Dirigent: Sir Simon Rattle

Musikverein Wien, 4. Dezember 2022

 

von Herbert Hiess

Anton Bruckner im Wiener Musikverein aufzuführen ist ein recht riskantes Unterfangen, wie das Konzert in diesem Konzertsaal deutlich bewiesen hat. Hier interpretierten vor allem mit den Wiener Philharmonikern so Pultgrößen wie Carlo Maria Giulini, Sir Georg Solti, Giuseppe Sinopoli, Claudio Abbado und vor allem Herbert von Karajan sein allerletztes Konzert mit diesem Werk in diesem Haus; von diesem Konzert spricht man übrigens heute noch.

Nun hat Sir Simon Rattle, der sympathische Brite, dabei alles richtig gemacht. Ausgewogene Tempi, dynamisch vielleicht zu vorsichtig – insgesamt aber in allen Instrumentengruppen sehr ausgewogen. Das Orchester bewies wieder einmal seine einzigartige Position auf der Welt. In geradezu allen Bereichen hochvirtuos. Seien es die seidenweichen Streicher, das perfekte Holz, Schlagwerk und das strahlende Blech. Hier begeisterten vor allem die vier Wagner-Tuben, die Bruckner in seinen letzten drei Symphonien so gern einsetzte.

Trotzdem hinterließ das Konzert etwas Unzufriedenheit. Wo doch alles so richtig war – es fehlte der große Bogen und der große Geist dieses Werkes. Gerade im Adagio fehlten die berührenden Übergänge von dem Tubenchoral zu der Streichersektion; man vermisste schmerzlich die endzeitlichen schwingenden Bögen in den Celli und Streichern. Obwohl die Musiker alles perfekt spielten; dies ist etwas, was der Dirigent erzeugen sollte. Und letztlich die Codas des ersten und letzten Satzes  waren fast zu verhetzt und zu dynamisch schwach gespielt. Insgesamt war der Höhepunkt von Rattles Interpretation das Trio im Scherzo. Hier konnte man den großen Geist von dem Werk erahnen. Dennoch die  enorme Steigerung fehlte an dem Abend besonders – da erinnerte man sich noch deutlich, wie diese Bernard Haitink mit dem European Youth Orchestra 2016 in Grafenegg mehr als eindrucksvoll hören und erleben ließ.

Ganz anders bei Jean Sibelius; hier ist Rattle voll in seinem Element. Vor allem das Orchester, das nicht zuletzt auch durch Sir Colin Davis mit dem finnischen Komponisten sehr gut vertraut ist, lebt gut in dieser Tradition weiter.

Brillierten Sir Simon und das Orchester schon im Sommer 2022 mit seiner
7. Symphonie in Grafenegg, bewiesen sie abermals nun im Wiener Musikverein, wie großartig die Werke des Finnen erklingen können.

Mit den zwei naturhaften Tondichtungen „Die Okeaniden“ und „Tapiola“ wurden zwei extrem selten gespielte Werke ins Programm genommen. Diese zwei Kompositionen sind ebenso schwierig aufzuführen wie anzuhören. Man konnte tatsächlich nur etwas davon mitnehmen, wenn man einigermaßen vorbereitet war.

Rattle und die Londoner machten aus beiden Stücken ein wahrhaftes Fest. In allen Instrumentengruppen wiederum perfekt, war es allein eine Freude, die Musiker beim Spielen zu beobachten. Man konnte sich bei den „Okeaniden“ das Wasser und bei „Tapiola“ die Waldgeister geradezu vorstellen.

War Bruckner vielleicht nicht der allergrößte Wurf Sir Simon Rattles; aber mit Sibelius konnten der Maestro und das Orchester wahrhaft beeindrucken. Hoffentlich kommt es da bald zu einer Fortsetzung. Rattle ist heute in Sachen Sibelius unangefochten mit an der Spitze.

Herbert Hiess, 5. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

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