Leon Gurvitch; Foto Patrik Klein
Wir haben den Komponisten Leon Gurvitch im Café des Hotels „Vier Jahreszeiten“ getroffen. Gurvitch hat über die Weltpremiere seiner musikalischen Serie der Gedichte von Anna Akhmatova erzählt. Wir sprachen auch über die Klischees, die das Publikum aus den Konzertsälen und Theatern vertreiben.
Das Gespräch führte Victoriya Tielemann
klassik-begeistert: Erzählen Sie, woher kommt die Melodie von Ihren Liedern?
Leon Gurvitch: Das weiß niemand. Kein Komponist kann genau sagen, woher sie kommt oder wie sie entsteht. Es ist mystisch. Es spielt keine Rolle, ob es nachts, tagsüber, morgens, zu Hause, im Zug… Es kann überall und zu jeder Zeit passieren. Die Hauptsache ist, dass man es rechtzeitig bemerkt. Wenn man es nicht sofort tut, ist sie weg.
klassik-begeistert: Und so passierte es auch bei der Musik für Akhmatova?
Leon Gurvitch: Es war genauso wie bei Musik zu anderen Gedichten, zum Beispiel von Heinrich Heine oder anderen Dichtern. Ich habe die Musik geschrieben, weil ich es wollte.
klassik-begeistert: Und als Sie fertig waren, wie kamen Sie darauf, dass Olga Peretyatko dieses Werk aufführen sollte?
Leon Gurvitch: Als das Werk fertig war, habe ich überlegt, wer es so aufführen könnte, dass es meine Seele berühren würde. Mir wurde klar, dass es Olga war. Sie hat bei der Probe gesungen und ich habe sofort Gänsehaut bekommen. Und sie ist immer im Eintrittspreis inbegriffen.
klassik-begeistert: Die Premiere findet am 24. September in der Elbphilharmonie Hamburg statt. Und Sie werden selbst am Flügel spielen?
Leon Gurvitch: Ich habe die Exklusivrechte für die Verwendung von Akhmatovas Gedichten erhalten. Es wird eine Weltpremiere und ein Komponisten-Porträt sein. Ich habe das Glück, Olga Peretyatko am Flügel begleiten zu dürfen.
klassik-begeistert: Haben Sie mit Olga geprobt?
Leon Gurvitch: Ja, in Berlin.
klassik-begeistert: Und wie war es? Konnte die Sängerin Ihre Ideen umsetzen?
Leon Gurvitch: Es ist ein Arbeitsprozess, auch wenn es kreativ ist. Manches wurde umgeschrieben, manches hinzugefügt. Es ist ein neues Werk. Das ist das Interessanteste an der Zusammenarbeit mit einem Komponisten, der noch lebt. Ich würde zum Beispiel gerne mit Mozart arbeiten. Aber das ist leider nicht möglich. Man kann ihn nicht fragen, warum er dieses oder jenes geschrieben hat.
Opernstar Olga Peretyatko (c)
klassik-begeistert: Ich muss zugeben, als ich erfuhr, dass Sie in Hamburg leben, war ich erstaunt. Ich lebe in der gleichen Stadt mit einem echten Komponisten! Sie treten in Konzertsälen und Theatern auf der ganzen Welt auf. Warum haben die Leute heutzutage Angst vor klassischer Musik? Warum denken viele, sie sei langweilig und veraltet.
Leon Gurvitch: Das ist eine Frage der Klischees. Man glaubt, dass man sich anpassen muss, wenn man ins Theater oder in ein Sinfoniekonzert geht. Man darf nicht niesen, man darf nicht rascheln, man darf nur dort klatschen, wo man klatschen soll, und man darf nur in den Pausen atmen. Das ist der Eindruck, den die Leute haben. Vor allem die jüngere Generation. Für sie ist alles schnell und emotional. Da gibt es nur eine Lösung: Aufklärungsarbeit leisten. Aber man muss auf die richtige Art und Weise über klassische Musik sprechen, mit Interesse.
klassik-begeistert: Ich sage immer „Leute, ihr liebt klassische Musik, ihr wisst es nur noch nicht”.
Leon Gurvitch: Die Leute sollten keine Vorurteile haben. Sie sollen doch kommen und sie sich anhören. Es spielt keine Rolle, ob sie bereits Erfahrungen mit Konzertbesuchen gemacht haben oder nicht. In den USA, wo ich oft auftrete, stelle ich fest, dass immer mehr junge Leute zu den Konzerten kommen. Und das Publikum reagiert ganz natürlich. Sie klatschen und schreien „Wow!“. Schließlich stellt sich heraus, dass Beethoven nicht schlechter ist als Metallica.
klassik-begeistert: Kann man Musik mit einer Sitzung bei einem Psychotherapeuten vergleichen?
Leon Gurvitch: Ich denke ja. Wenn man in ein Konzert geht, wird man anders – man wird reiner und freundlicher. Musik zeigt das Leben, ohne Worte zu benutzen. Sie ist irgendwie abstrakt, aber gleichzeitig auch sehr konkret. Wir hören dieselbe Musik, aber jeder erlebt darin seine eigene persönliche Geschichte. Musik ist eine Emotion.
Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Sonntag 24. September.2023, 19.30h – ELBPHILHARMONIE
Konzert „Träumereien“: Poesie und Musik
Leon Gurvitch mit Opernstar Olga Peretyatko
Tickets erhältlich auf der Webseite und in den Konzertkassen von der Elbphilharmonie sowie an allen Vorverkaufsstellen und über die Reservix Hotline: 0761 888499 99
https://www.elbphilharmonie.de/de/programm/leon-gurvitch-olga-peretyatko/19997