Die beste Zeit für Alte Musik ist jetzt

Interview mit Martyna Pastuszka, Gründerin und Konzertmeisterin von dem {oh!} Orkiestra  klassik-begeistert.de, 20. September 2023

Martyna Pastuszka, Fot. Magdalena Hałas

Ein Gespräch mit Martyna Pastuszka, Gründerin und Konzertmeisterin von dem {oh!} Orkiestra, verbunden mit dem Bayreuth Baroque Festival von Anfang an.


von Jolanta Łada-Zielke

Klassik-begeistert: Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Bayreuth Baroque?

Martyna Pastuszka: Unsere vierjährige Präsenz an diesem Festival ist das Ergebnis einer engen und herzlichen Beziehung zu Max Emanuel Cenčić und Georg Lang, die in Wien die Agentur Parnassus Arts Production leiten, welche Opernvorstellungen, Konzerte und Liederabende organisiert. Max sang vor sieben Jahren zum ersten Mal mit uns und fühlte sich, wie er selbst sagt, „zu Hause“, sowohl emotional als auch musikalisch. Unser Arbeitsstil, die Detailgenauigkeit und die Emotionalität der musikalischen Botschaft sprechen ihn sehr an. Seitdem arbeiten wir zusammen und seit fünf Jahren gehören wir zu dieser künstlerischen Agentur in Wien. Max ist künstlerischer Leiter von Bayreuth Baroque, und gemeinsam mit Georg Lang arbeiten sie diesbezüglich mit den Behörden der Stadt Bayreuth zusammen. Die Einladung unseres Orchesters zu diesem Event kam ganz natürlich von Max und Georg und sie erneuern sie jedes Jahr, was für uns sehr wichtig ist. Wir sind hier sogar während der Pandemie aufgetreten.

Klassik-begeistert: Was unterscheidet dieses Festival von anderen Veranstaltungen, die der Barockmusik, besonders der Barockoper, gewidmet sind?

Martyna Pastuszka: Es gibt eine Reihe solcher Festivals, aber nur wenige haben so viele Nebenveranstaltungen und sie finden nicht in einem so prächtigen Raum wie das Markgräfliche Opernhaus statt. Man serviert dem Publikum Konzerte und Aufführungen auf sehr hohem Niveau. Die Fernsehsendern ARTE und Mezzo übertragen sie. Es kommt selten vor, dass ein Festival von Anfang an eine so professionelle Medienberichterstattung erhält. Darüber hinaus werden Sängerinnen und Sänger in verschiedenen Stadien ihrer Laufbahn vorgestellt, sowohl solche, die sich in der Blüte ihrer Karriere befinden, als auch weniger bekannte Künstler, die gerade ihre ersten Schritte in dem Beruf machen.

Klassik-begeistert: Jemand hat das Bayreuther Baroque scherzhaft als „Countertenor-Festival“ genannt, weil es die größte Anzahl von Sängern mit dieser Stimmlage aufweist. Stimmen Sie dem zu?

Martyna Pastuszka: Es ist tatsächlich kein Festival der Baritone und Bässe. Ich würde es eher als ein Festival der hohen Stimmen bezeichnen, sowohl der weiblichen als auch der männlichen. Ich bin fasziniert von Sängern, die sich in hohen Lagen bewegen, als ob sie übermenschliche Fähigkeiten besäßen, wie Koloratursoprane mit einer außergewöhnlichen Geläufigkeit, die die Grenzen unserer Vorstellungskraft sprengt.

Martyna Pastuszka, Fot. Magdalena Hałas

Klassik-begeistert: Letztes Jahr waren Sie bei der Aufführung von „Alessandro nell’Indie“ die einzige Frau auf der Bühne, weil laut der Aufführungstradition nur Männer alle Rollen in dieser Oper sangen.

Martyna Pastuszka: Ja, ich hatte das Vergnügen, Franco Fagioli mit der Violine zu begleiten, während ich mit ihm auf der Bühne stand. Man könnte sagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt die einzige Frau auf der Bühne war. Während der Vorbereitungszeit war die Beteiligung beider Geschlechter ausgewogen, aber während der Vorstellung standen außer mir nur Männer auf der Bühne, sowohl Sänger als auch Tänzer. Der – wenn auch nur vorübergehende – Wechsel in diese Welt war für mich eine interessante soziologische Erfahrung. Schließlich gab es bis vor einigen Jahrzehnten noch Orte, an denen nur Herren Zutritt hatten, wie spezielle Herrenclubs oder Orchester, in denen nur Männer spielten. Max Cenčić gab uns einen Einblick in die Tradition, als Männer alle möglichen Rollen sangen und sich weibliche Kostüme anzogen. Der „Alessandro nell’Indie“ war eine wunderbare Produktion.

Klassik-begeistert: Viele Menschen bewundern Max Emanuel Cenčić dafür, dass er dieses Festival nicht nur leitet und großartig singt, sondern auch Opernaufführungen so inszeniert, dass sich das Publikum nicht langweilt.

Martyna Pastuszka: Max hält ständig zwei oder sogar drei Erzählebenen auf der Bühne aufrecht. Im Operntheater ist diese Art von Erzählung und Bühnenbewegung selten zu finden. In diesem Fall beschränkt sich die Aktion nicht auf die Person, die gerade singt, denn im Hintergrund spielen noch die Handlungen aus früheren Szenen. Diese äußerst attraktiven Genreszenen sind ein echter Blickfang. Dies sieht man besonders auf dem Fernsehbildschirm während der Übertragung. Diese Vielfältigkeit, das Ausspielen mehrerer Episoden auf der Bühne, sorgt dafür, dass das Auge der Kamera sich an etwas festhalten kann. Ich empfehle sehr, die Aufnahme dieser Oper zu sehen, nicht zuletzt wegen der attraktiven Musik von Leonardo Vinci.

Klassik-begeistert: Wie finden Sie die Musik von Carl Henrich Graun (1704-1759), dessen Stücke Sie im Konzert mit Valer Sabadus aufgeführt haben?

Martyna Pastuszka: Graun ist einer der besten deutschen Komponisten seiner Zeit, neben Johann Adolph Hasse und den Söhnen Bachs. Ich kannte bisher nur die Instrumentalmusik seines Bruders Johann Gottlieb, hauptsächlich für Violine und Viola da Gamba. Es handelt sich dabei um technisch sehr anspruchsvolle Stücke mit Prunkstück-Elementen. Für Carl Heinrich ist die Wiederherstellung der Einfachheit sehr charakteristisch. In seinen Werken gibt es eine ganze Reihe von musikalischen Kavatinen, auch im sizilianischen Stil, die man einfach und natürlich singen soll, ohne übermäßige Verzierungen oder komplizierte Läufe. Diese Arien sind strukturell einfach und aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, gibt es hier nichts Überraschendes. Auch die Partitur sieht sehr einfach aus. Ausgehend von dem musikalischen Material dachte ich, dass wir dieses Programm in zweieinhalb Tagen vorbereiten sollten. Aber es stellte sich heraus, dass diese Musik, die auf dem Papier so einfach aussieht, eine gewisse Komplexität der Interpretation verbirgt. Scheinbar sind alle Noten klar, offensichtlich, die kontrapunktische Notation und die harmonische Ebene logisch geführt. Doch nach zwei Tagen intensiver Beschäftigung mit der Musik von Carl Heinrich Graun verstand ich, warum man in für einen der herausragendsten Komponisten des deutschen 18. Jahrhundert hält. Schöne Melodien und die scheinbare Einfachheit seiner Werke haben einen sehr raffinierten Charakter.

Valer Sabadus im Konzert mit {oh!} Orkiestra unter der Leitung von Martyna Pastuszka am 8. September 2023 im Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth © Clemens Manser

Klassik-begeistert: Die charakteristischsten Merkmale der Barockmusik sind jedoch reiche Verzierungen und rhetorische Figuren?

Martyna Pastuszka: Ich denke, dass die klassische Musik aller Epochen, mit Ausnahme des 20. Jahrhunderts, das eine andere Musiksprache hat, auf das barocke Erbe zurückgreift, einschließlich der rhetorischen Figuren. Die Situation wird komplizierter, wenn verschiedene Arten von Texturen kombiniert werden, zum Beispiel Kirche und Oper. Manchmal wird eine Melodie so verschönert, dass wir ihr Original nicht mehr erkennen können. Wenn alle möglichen Elemente kombiniert und in eine Phrase oder Arie gepackt werden, erlebt das Publikum eine Übersättigung. In einigen Stücken von Nicolò Porpora gibt es Kaskaden von unnötigen Klängen. Wir müssen keine Ermüdung empfinden, wenn ein guter Sänger sie aufführt, aber bei mittelmäßigen Interpreten verstärkt sich noch der Eindruck der Übertreibung. Bei Bach erleben wir keine Übersättigung, sondern eine Tiefe und erzählerisches Vermögen. Auch er übertreibt ein wenig, aber seine Übertreibung berührt eine gewisse Heiligkeit und unerreichbare Schönheit, die wir als Manifestation seines Genies erleben. Gegenüber ihm wirkt Porpora auf uns oberflächlich und protzig. Eine gewisse Übertreibung sehe ich auch bei Mozart und bei Robert Schumann, der schrieb, als wolle er möglichst viele Motive und musikalische Gedanken in ein einziges Klavierkonzert packen. Viele Komponisten übertreiben, nur dass sie es auf eine mehr oder weniger brillante Art tun. Graun gehört zu denen, die versuchen, die Textur zu glätten und die ornamentalen Elemente auf ein Minimum zu reduzieren, damit sie den Hörer nicht überwältigen.

Klassik-begeistert: Im Biogramm von Ihrem {oh!} Orkiestra steht, dass Sie sich mit der historischen Aufführung romantischer Musik beschäftigen, die nicht mehr als Alte Musik gilt. Wie machen Sie das?

Martyna Pastuszka: Die historische Aufführung romantischer Musik ist im Moment ein sehr populäres Thema, besonders in Deutschland. Das Ensemble Concerto Köln organisiert Sitzungen zur Aufführung von Richard Wagners Musik, Jakob Lehmann studiert das Material zur italienischen Oper, insbesondere Rossini und Donizetti. Auch in England, Frankreich und Belgien spielt man die romantische Musik nach ihren historischen Vorbildern, aber es sind die deutschen Ensembles, die eine enorme Arbeit leisten, um dieses Wissen zu systematisieren. Wir sind zum ersten Mal auf dieses Problem gestoßen, als wir eine Symphonie von dem polnischen Komponisten Karol Lipiński (1790-1861) aufgenommen haben. Wir haben daraufhin Clive Brown, den Autor des Buchs „Classical and Romantic Performing Practice 1750-1900“, eingeladen, mit uns daran zu arbeiten. Er hat fünf Tage lang sehr verständnisvoll und flexibel mit uns geprobt, weil wir nicht alle seine Hinweise sofort in die Praxis umsetzen konnten. In den letzten vier Jahren war das Fryderyk-Chopin-Institut in Polen unser wichtigster Aufnahmepartner. Die Leitung des Instituts sagt, wir sollen uns auf jede Aufnahme extra vorbereiten. Dazu nehmen wir die Erstausgaben der Partituren der Werke, die wir aufführen sollen. Außerdem hören wir uns Archivaufnahmen an, deren es glücklicherweise jede Menge im Internet gibt.

Martyna Pastuszka, Fot. Magdalena Hałas

Klassik-begeistert: Wo genau kommen diese Aufnahmen her?

Martyna Pastuszka: Norwegische, schwedische und dänische Radiosender stellen ihre Sammlungen online zur Verfügung, zu denen vorher niemand Zugang hatte. Wir konnten früher nur deutsche und amerikanische Aufnahmen verwenden. Als wir das Konzert von Edward Grieg im Juli vorbereiteten, hatten wir das unglaubliche Vergnügen und Privileg, ihn spielen zu hören. Zwar handelte es sich nicht um das a-Moll-Konzert, sondern um mehrere Klavierminiaturen, aber an ihnen konnten wir den Stil und bestimmte künstlerische Vorlieben des Komponisten erkennen. Wir lernten auch die Aufführungen kennen, die er schätzte. All dies ist in Online-Ressourcen verfügbar. Darüber hinaus sind in letzter Zeit viele Bücher und Dissertationen zur historischen Aufführungspraxis erschienen. Ich glaube, dass jetzt die beste Zeit für die Alte Musik ist, weil man alle schriftlichen Arbeiten dazu im Internet finden kann. Man kann auch eine Anfrage an die Universität oder direkt an den Autor senden. Es gibt ebenfalls eine Liste der Musikbibliotheken, in denen sich ein gewünschtes Manuskript befindet. Viele Musiker bekommen die Partituren zugeschickt und transkribieren sie selbst, oder sie zerlegen sie für einzelne Orchesterstimmen.

Klassik-begeistert: Wie sieht es mit dem Urheberrecht aus?

Martyna Pastuszka: Bei jedem Werk findet man eine Information über das Erscheinungsjahr und darüber, ob die Nachkommen des Komponisten das Urheberrecht besitzen. Ein großer Teil des Materials kann als geistiges Eigentum der Allgemeinheit verwendet werden. Für uns ist das eine sehr gute Lösung, weil nicht alles in Polen verfügbar ist. Außerdem befindet sich unser Land rechtlich noch in der Entwicklung. Einige Gesetze sind etwas veraltet, wie zum Beispiel das System der Noten-Ausleihe, die eigentlich zum Kaufen sein sollen. Wenn wir Noten ausleihen, erhalten wir in der Regel gebrauchte Exemplare, vom vorherigen Nutzer „bearbeitete“ Exemplare. Im Westen gibt es so etwas nicht mehr, weil man in einer Nanosekunde die gewünschten Noten in digitalisierter Form erhalten und von seinem eigenen Computer ausdrucken kann. Wir verlassen uns auf die kompetente Transkription der Noten durch von uns beauftragte Personen. Ich denke, dass wir in einigen Jahren eine reiche Notenbibliothek haben werden, die wir zur Verfügung stellen könnten.

Martyna Pastuszka und Valer Sabadus nach dem Konzert am 8. September 2023, Fot. Joanna Stich

Klassik-begeistert: Welche Perspektiven sehen Sie für die Alte Musik in Polen, vor allem im Hinblick auf die Rezeption?

Martyna Pastuszka: Das Interesse an Alter Musik ist in unserem Land zweifelsohne vorhanden. Die populärsten Werke sind natürlich die Johannespassion von Bach, die Sinfonien von Beethoven und Mozart, sowie sein Requiem. Wenn wir einen vollen Konzertsaal haben wollen, selbst einen mit zweitausend Plätzen, empfehle ich Händels „Messias“ aufzuführen. Andererseits ist es unmöglich, überall immer wieder das Gleiche zu spielen. Das Publikum wird immer offener für Neues und sogar wählerisch. Ein Festival wie Misteria Paschalia in Krakau erfüllt diese Erwartungen und präsentiert die Uraufführungen von wiederentdeckten Werken. Im Jahr 2022 spielten wir bei diesem Festival als Residenzorchester zwei Oratorien: „Davide penitente“ von Mozart, das man in Polen selten aufführt, und „Die Jünger zu Emmaus“ des Hamburger Komponisten Jacob Schuback, was eine absolute Neuheit war. Wir haben in unserem Repertoire die Oper „Gismondo, Re di Polonia“ von Vinci, die wir 2020 im Bayreuth Baroque präsentierten. Im vergangenen Jahr haben wir die Weltpremiere der Oper „Venceslao“ von Antonio Caldara vorbereitet. Wir können uns nicht über mangelndes Interesse beklagen, und dank unserer Werbemaßnahmen sind unsere Konzerte immer gut besucht. Ich habe den Eindruck, dass die Liebhaber der Alten oder auf historischen Instrumenten gespielter Musik eine neue Art von Zuschauer sind, die eher Sportfans ähneln. Sie sind sehr engagiert und betreiben einen Konzerttourismus, indem sie ihren Lieblingskünstlern folgen. Sie kommen mit einem gewissen Vorwissen zu den Konzerten. Die glühendsten Fans eines Sängers können zu jedem seiner Auftritte reisen, selbst in die entlegensten Orte. Zu unserem Konzert mit Sabadus kamen nach Bayreuth Gäste aus Polen, aus der Region Racibórz und aus Wrocław.

Klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Martyna Pastuszka, Dirigentin und Konzertmeisterin, schloss ihr Violine-Studium an der Musikhochschule in Katowice ab. Sie arbeitet als Konzertmeisterin mit dem französischen Ensemble Pygmalion und dem neu gegründeten Teodor Currentzis Utopia Orchester zusammen. In der Vergangenheit spielte sie mit der Hofkapelle München, Le Concert de la Loge und Capella Cracoviensis. 2012 gründete sie ihr eigenes Ensemble – das {oh!} Orkiestra – mit dem sie bei großen Festivals für Alte Musik auftritt, darunter die Tage Alter Musik in Regensburg, das Klangvokal Musik Festival in Dortmund, die Händel Festspiele Halle und Bayreuth Baroque. Darüber hinaus arbeitet sie als Solistin und Konzertmeisterin mit Kammerensembles und Orchestern in Paris, Gent, München, Zagreb, Berlin und Köln zusammen.

Festivals Bayreuth Baroque, Händel, „Flavio, Re de’ Longobardi“ klassik-begeistert.de, 13. September 2023

Bayreuth Baroque Opera Festival, Claudio Monteverdi: L’Orfeo Bayreuth, 13. September 2023

Bayreuth Baroque Opera Festival, Bruno de Sá Bayreuth, Ordenskirche St. Georgen, 14. September 2023

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