Christian Thielemann © Matthias Creutziger
Die Nachfolge von Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper steht fest. Christian Thielemann übernimmt die Position des Generalmusikdirektors. Für Zündstoff scheint gesorgt.
von Jürgen Pathy
Gesprächsthema Nummer 1 zurzeit: Christian Thielemann wird neuer Generalmusikdirektor an der Berliner Staatsoper. Nachdem die Gerüchte sich Tage zuvor schon verdichtet haben, hat Berlins Kulturstadtrat Joe Chialo (CDU) diese Entscheidung letzten Mittwoch bei einer Pressekonferenz bestätigt. Ab September 2024 tritt Thielemann die Nachfolge von Daniel Barenboim an. Der hatte aus gesundheitlichen Gründen bereits Anfangs des Jahres sein Amt niedergelegt.
Pro & Contra Thielemann
Ein Tag der Euphorie für viele. Vor allem für treue Thielemann-Fans und Enthusiasten, denen die Entwicklungen in der Oper sowieso schon gegen den Strich laufen. Mit Thielemann erhofft man sich etwas Kontinuität und das Beharren auf alten Tugenden. Das Unwort „Regietheater“, sei hier mal vorsichtig in den Raum geworfen. Christian Thielemann steht vermutlich nicht gerade als Synonym für diesen „Forstschritt“, dem sich viele einfach nicht wehrlos beugen wollen.
Eine Hiobsbotschaft wiederum für andere. Auf seinem Instagram-Account pöbelte Manuel Brug locker und munter drauflos. „Selfish orchestra has won, new intendant is loser, senator has no clue“. Eine kräftige Watschn also in Richtung aller, die bei dieser Entscheidung ein Wörtchen mitzureden hatten. Und als wäre das nicht schon genug des Angriffs, setzt der Kulturjournalist der „Welt“, wo er seit über 20 Jahren zum Fixpunkt im Feuilleton zählt, nach. „Berlin has to live with anti-modern conductor“, der auch keine Ahnung davon habe, „how to run an opera house today“.
Dieses Statement sitzt und lässt auch keinen Spielraum für Interpretationen. Mit seiner Ablehnung steht er auch nicht alleine da. Via Twitter zwitscherte Robert Braunmüller von der Abendzeitung München: „Wie naiv kann man eigentlich sein“? Und meint damit, dass Thielemann in alles reinreden, aber sich um nichts kümmern werde. In der Süddeutschen Zeitung betrachtet Reinhard Brembeck das mit etwas weniger Polemik, wirft dennoch ein, dass die Möglichkeit des Scheiterns mit Thielemann durchaus gegeben sei.
Nur Klassik-begeistert-Kollegin Kirsten Liese zeigt sich auf ganzer Linie wohlwollend. Diese Entscheidung sei nicht nur großartig für Daniel Barenboim, der in Thielemann einen würdigen Nachfolger gefunden hat. Auch für Berlin und die Berliner, sei dieser Tag eine Erleichterung gewesen, weil damit nun eines fest stünde:
Dass die Wagner- und Strausspflege, die an der Berliner Staatsoper eine lange Tradition habe, Fortsetzung findet. Und dass man mit Thielemann nun einen GMD am Steuer stehen hat, der sowohl Oper als auch das Konzertfach weltklassse zu bedienen weiß. Glücklich dürfe man sich schätzen, dass Gerüchte über mögliche andere Nachfolger im Sand verebbt seien.
Wo viel Licht, da auch viel Schatten
Beiden Seiten ist etwas abzugewinnen. Dass Christian Thielemann zu den Größten seiner Zunft zu zählen ist, das wagt wohl niemand zu bestreiten, der noch alle Tassen im Schrank hat. Kaum einer seiner Kollegen ist auch nur ansatzweise imstande, die Sonne im Konzerthaus derart hell aufgehen zu lassen, wie der gebürtige Berliner, der nun in seine Heimatstadt zurückkehrt. Wer schon einmal erlebt hat, wie Thielemann das Adagio aus Beethovens Vierter aus den Wiener Philharmonikern kitzelt. Oder: Wie er das Andante aus Bruckners Zweiter in gleißendem Licht erstrahlen lässt, als würde sich der heilige Gral vor einem öffnen, der kann vielleicht im Ansatz erahnen, was es heißen mag, in Richtung Himmel zu entschweben. Das macht ihm so schnell keiner nach.
Nur, eines ist auch gewiss: Thielemann ist kein Allrounder und keine Person, die gewillt ist, seinen Fokus gezielt nur einer Institution zu widmen. Bei der Staatskapelle Dresden, die er nun nach 12 Jahren als Chefdirigent verlässt, eilte ihm der Ruf voraus, nur ein besser bezahlter Gastdirigent gewesen zu sein. Eine, maximal zwei Opernproduktionen pro Saison, so über den Daumen gepeilt, und einige Konzerte – das ist für viele zu wenig, um an einem Haus „identitätsstiftend“ zu wirken.
Diesbezüglich erweist sich der Blick Richtung München als viel effizienter. Dort zeigt Vladimir Jurowski, was es heißt, als GMD an einem Haus zu wirken: Einführungen, Gespräche und anderweitige Tätigkeiten, mit denen er ganz klar den Austausch und den Kontakt zum Publikum sucht. Dasselbe auch in Wien. Auch wenn Philippe Jordan nicht unumstritten ist und Ende 2025 die Wiener Staatsoper verlassen wird, erfüllt er seine Pflichten als GMD mit Bravour.
Reisende kann man nur schwer aufhalten
Bei Christian Thielemann wird sich zeigen, ob er diese enge Bindung zur Berliner Staatsoper auch finden wird und überhaupt sucht. Der Ruf aus der Ferne war schon immer viel zu groß. Die Osterfestspiele Salzburg sind nun zwar Geschichte. Die Bayreuther Festspiele anscheinend auch. Das Fremdgehen mit den Wiener Philharmonikern, das man in Wien natürlich dankend zur Kenntnis nimmt, wird wohl aber nicht so schnell ein Ende finden. Ebenso wenig seine regen Konzerttätigkeiten im In- und Ausland.
Außerdem darf man mit ruhigem Gewissen behaupten, dass Thielemanns Expertise auf ein schmales Repertoire begrenzt ist. Strauss, Wagner, Bruckner und Beethoven – alles Extraklasse. Von Bach, Mozart und anderen Komponisten, die vor dem 19. Jahrhundert agiert haben, sollte er wohl lieber Abstand nehmen. Das weiß er eigentlich auch selbst. Irgendwann müsse man sich entscheiden, hat er in seinem Buch „Mein Leben mit Wagner“ 2016 geschrieben. Dabei ging Thielemann sogar so weit, eine klare Bruchlinie schon zwischen Wagner auf der einen Seite und Mahler auf der anderen zu ziehen. Von dieser Devise sollte er vielleicht nicht abweichen.
Das Pulverfass: Regietheater und Kompetenzen
Hinzu kommt, dass Thielemann in puncto Regie die Berliner Intendanz vor große Herausforderungen stellen wird. 2024 übernimmt die Österreicherin Elisabeth Sobotka, die in der Branche als „fortschrittlich“ gilt. Wie sich das mit Christian Thielemann vereinbaren lassen soll, ist vermutlich das größte Wagnis. Thielemann gilt in der Branche als „schwieriger Charakter“, der wenig Bereitschaft zeigt, Kompromisse einzugehen. Das könnte bei dieser Konstellation auf ein Pulverfass hinauslaufen, da Thielemann ja sowieso nicht den Ruf genießt, ein großer Teamplayer zu sein.
Fast überall hat man ihn abgesägt: Bei den Osterfestspielen in Salzburg bewusst mit Nikolaus Bachler einen Intendanten vor die Nase gesetzt, mit dem Thielemann bekanntlich nicht gut Kirschen essen kann. Auch eine Möglichkeit, jemandem deutlich den Wink in Richtung Tür zu zeigen. In Dresden dürfte die Entscheidung gegen ihn auch recht eindeutig gewesen sein. Selbst in Bayreuth, wo Thielemann lange Zeit viele Freiheiten gehabt haben soll, hat man die Zusammenarbeit irgendwie kommentarlos im Sand verlaufen lassen. Dass Thielemann jetzt doch noch einen bedeutenden Chefposten erhält, gleicht fast schon einem Wunder.
Die Entscheidung pro Thielemann, ganz gewiss, die hat viele Vorteile: Ein klingender Name, der dem Haus viel Glanz verspricht. Musikalische Highlights sind so gut wie vorprogrammiert. Ein volles Haus, wenn der „Kapellmeister“, wie er sich gerne nennt, am Pult stehen wird, wohl ebenso. Ob Thielemann aber den Anforderungen eines GMDs und des modernen Musiktheaters gerecht werden kann, das wird sich erst weisen.
An der Rampe stehen und nur singen, wie Barrie Kosky klassische Oper definiert, auf das wird sich die Ära Thielemann sicherlich nicht herunterbrechen lassen – auch wenn das einige gerne hätten. Dazu hat er sich schon viel zu sehr geöffnet. Das beweist der Tscherniakov-„Ring“, den Thielemann letzte Saison von Barenboim übernommen hat. Natürlich ein Prestigeprojekt, mit dem Barenboim schon seinen Wunschkandidaten vorgestellt hat, der ihm „Unter den Linden“ als Chef folgen sollte. Das ist zumindest in Erfüllung gegangen.
Wie man allerdings mit den Kompetenzverteilungen in Berlin umgehen wird, das wird die große Herausforderung. Zu viele Köche können nun mal auch den Brei verderben, wie man in Wien leider feststellen musste.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 1. Oktober 2023, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
Pathys Stehplatz (40) – Ein Griff ins Klo! klassik-begeistert.de, 14. September 2023
Pathys Stehplatz (39): Frisst die Kultur dem Steuerzahler die Haare vom Kopf?
Pathys Stehplatz (38): Gstaad Conducting Academy klassik-begeistert.de, 19. August 2023
Lieber Jürgen,
wer den Post von Manuel Brug in seinem Twitter zitiert, sollte auch erwähnen, dass der Kollege in der „Welt“, in der er sonst über bedeutende Klassikereignisse berichtet, diesmal nicht seine Stimme erheben konnte. Dort bewertet Peter Huth die Personalie rundum positiv, mit kleinen lustigen Seitenhieben gegen politische wokeness.
Die Bedenken hinsichtlich des Repertoires teile ich nicht. Thielemann hat ja schon angekündigt, dass er Bachs Weihnachtsoratorium plant, das er in Dresden übrigens auch schon bestens dirigiert hat, als grandiosen Mozartdirigenten durfte ich ihn mit dem Requiem in Salzburg auch schon erleben. Und ich kann mir gut vorstellen, dass er auch einmal den Don Giovanni, Così und Figaro dirigieren wird, dazu hatte er bislang nur wenig Gelegenheit. Das muss natürlich auch die Intendantin planen und dazu braucht es geeignete Regisseure.
In einem hast Du natürlich Recht: Die Zahl der Konzerte und Vorstellungen wird schmaler ausfallen als bei jemanden, der sich ganz allein auf ein Orchester konzentriert. Aber das ist nun mal der Tribut, den ein Stardirigent erfordert. Dass ein Spitzendirigent den Wiener Philharmonikern treu verbunden bleibt, kann man ihm ernstlich nicht verdenken. Barenboim hatte ebenfalls immer mehrere Orchester als Chef gleichzeitig: zeitweise das Chicago Symphony, dann die Mailänder Scala, außerdem noch sein West Eastern Divan sowie ebenfalls Gastkonzerte mit den Wienern. Auch andere Spitzendirigenten sind mehrfach unterwegs, Muti war in den zehn Jahren, in denen er das Chicago Symphony als Chefdirigent geleitet hat, mehrfach bei den Wienern und beim Symphonie Orchester des Bayerischen Rundfunks zu Gast. Außerdem hat er noch sein Orchestra Giovanile Luigi Cherubini und engagiert sich in seiner Opernakademie. Riccardo Chailly leitet neben dem Orchestra an der Scala in leitender Funktion das Luzerne Festival Orchestra. Und auch der von Dir zitierte Vladimir Jurowski teilt sich aktuell auf zwischen München und Berlin, wo er noch an der Spitze des RSB steht.
Wenn sich schließlich ein Dirigent dafür einsetzt, dass Inszenierungen mit der musikalischen Einstudierung Hand in Hand gehen, und auf der Bühne nicht irgendein Murks stattfindet wie (leider) so oft an zahlreichen anderen Häusern, explizit an Thielemanns alter Wirkungsstätte, der Deutschen Oper, ist das gewiss nicht nur aus meiner Sicht ein Pluspunkt. Ich traue diesbezüglich aber auch Elisabeth Sobotka mehr zu als weiland einem Jürgen Flimm. In Bregenz hat sie bei den Seebühnen-Produktionen durchweg guten Geschmack bewiesen, denke ich an Stölzls Rigoletto oder an die Madama Butterfly von Andreas Homoki. Ich bin zuversichtlich, dass Thielemann und sie einen gemeinsamen Weg finden werden.
Kirsten Liese
Liebe Kirsten,
jetzt hatte ich einen ellenlangen Kommentar verfasst und alles weg. Das Mobiltelefon kann schon eine Herausforderung sein.
Deshalb die Kurzform: Drei Institutionen, dreimal abgesägt – das spricht eine klare Sprache.
Thielemann und Mozart: nix für mich – Geschmackssache. Thielemann als Dirigent sonst: Eine Größe, die seinesgleichen sucht.
Popcorn auspacken, gespannt sein…
Liebe Grüße
Jürgen Pathy
Wenn man die Aufführungen und Äußerungen der letzten zwei Jahre von Thielemann verfolgt, weiß man, dass Thielemann dem Regietheater keinesfalls nur negativ gegenüber steht (siehe Lohengrin in Salzburg oder den Berliner Ring, auch über den Bayreuther Tannhäuser hat er sehr positiv gesprochen, über „seine“ Aufführungen in Bayreuth [Tristan und Lohengrin] sowieso). Ich verstehe nicht, warum das immer noch ständig behauptet wird, informiert Ihr Euch nicht, bevor Ihr was schreibt?
Inga Herald
Liebe Frau Herald,
nun ja: Das ist nicht so einfach. Dass Thielemann mit modernen Inszenierungen nur mehr auf Kriegsfuß sei, wäre wohl ein Gerücht. Die letzten Auftritte sprechen dagegen. Dennoch wird man mit ihm keine Revolution los treten. Was ja auch gut ist: Man muss nicht jeden Unfug der Regie blind absegnen. Das sorgt aber sicher für Zündstoff. Bin schon gespannt, mit welchen Regisseuren man den Versuch wagen wird.
Liebe Grüße
Jürgen Pathy