Ensemblekonzert zugunsten der Deutschen Muskelschwundhilfe
Hamburgische Staatsoper, 3. Dezember 2016
Die Hamburgische Staatsoper hat ein Ensemble, das sehr hörenswert ist und den Vergleich mit den anderen deutschen Opernhäusern nicht scheuen muss. Das haben 15 Sängerinnen und Sänger beim Ensemblekonzert zugunsten der Deutschen Muskelschwundhilfe im Haus an der Dammtorstraße bewiesen.
Der Abend mit dem Namen „Bühne frei!“ stand unter dem Motto „Zuhause ist dort, wo dein Herz ist.“ Es ging um Heimat. Es ging darum, was Heimat in der heutigen globalisierten Welt bedeutet und wie Musik, große Opernmusik, dieses Ur-Sujet transportiert und vermittelt.
Die 15 Solisten traten – bis auf ein Sänger – nur mit einem Titel an. Und sie wurden nur vom sehr einfühlsam spielenden Briten Rupert Burleigh begleitet, der seit sechs Jahren als Studienleiter der Hamburgischen Staatsoper arbeitet. Das Gesangsniveau war überwiegend gut bis sehr gut. Dank der Klavierbegleitung konnten sich die rund 1000 Zuschauer voll auf die Stimmen konzentrieren.
Der Abend für den sehr guten Zweck war so etwas wie ein kleiner Gesangswettbewerb, auch wenn er natürlich nicht als solcher ausgegeben worden war. Welche Stimme würde sich in die Herzen der Zuschauer singen? Welcher Vortrag würde die Opernbesucher begeistern? Und welcher vielleicht weniger? „Bühne frei!“ mit fast allen Ensemblemitgliedern war damit so etwas wie eine Miniaturausgabe von „Hamburg sucht den Superstar“ – im kleinen Rahmen der Hamburgischen Staatsoper und auf Klassik bezogen, dargeboten von professionell ausgebildeten Stimmen.
Von den 15 waren es genau zwei junge Künstler, die sich vollends in die Herzen der Zuschauer sangen. Eine Frau und ein Mann.
Einen sehr beeindruckenden Auftritt legte der Mezzosopran Nadezhda Karyazina hin. Sie sang das Rondo der Isabella „Pensa alla patria“ aus „L’italiana in Algeri“ von Gioachino Rossini. Auf sie traf an diesem Abend exakt zu, was klassik-begeistert.de schon über ihre Maddalena in Giuseppe Verdis „Rigoletto“ am 30. Oktober 2016 geschrieben hatte: „Sie hat ein atemberaubend ergreifendes Timbre im tieferen Register, das einen erschauern lassen kann. Und eine genauso umwerfende Brillanz und Strahlkraft in der Höhe. Schade, dass sie an diesem Abend keine Hauptrolle hatte. Dieser wunderbaren, energiereichen und bewegenden Sängerin gehört die Zukunft – möge sie sorgsam mit ihrem Kapital umgehen. Auch auf sie warten größere Rollen. Es wäre der Hamburgischen Staatsoper zu wünschen, dass sie diese außerordentlich begabte Mezzosopranistin noch ein paar Jahre halten kann. Sie singt ab 16. März 2017 noch zwei Mal die Maddalena und ab 23. März 2017 die Mercédès in Georges Bizets ergreifender Ohrwurm-Oper ‚Carmen’.“
Ja, diese 30 Jahre alte Russin vermag mit ihrer Stimme mühelos und makellos das Haus zu füllen. Ihre Koloraturen waren von himmlischer Schönheit. Jeder Ton saß bombensicher. Sie war die einzige Frau an diesem Abend, von der man sagen kann, sie habe wahrhaft europäisches Format und vermöge auch in den ganz großen Häusern wie Wien, Paris, London, München, Berlin und Mailand zu begeistern.
Der beste Mann des Abends war der Turkmene Dovlet Nurgeldiyev. Er gehört seit der Spielzeit 2010 zum Ensemble der Hamburgischen Staatsoper. Der lyrische Tenor hat im September 2016 einen sehr guten Tamino in Wolfgang Amadeus Mozarts „Zauberflöte“ gesungen und einen ebensolchen Narraboth in Richard Strauss’ „Salome“ im November. Sein Steuermann in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ war im Februar hervorragend.
An diesem Abend sang er die Arie des Zarastra „Parais, astre de mon ciel“ aus der Oper „Le mage“ von Jules Massenet. Es ist eine bezaubernde Arie aus einer Oper, die leider viel zu selten zu hören ist. Wow, dieser Nurgeldiyev berührt. Er hat eine Stimme mit Seele. Seine Strahlkraft ist phantastisch, im tieferen Register singt er auch sehr anrührend. „Dieser lyrische Tenor hat eine unglaubliche Bühnenausstrahlung“, sagte eine klassik-begeisterte Hamburgerin, die als Altistin im renommierten Symphonischen Chor Hamburg singt. „Ich hatte das Gefühl, er singt nur für mich und habe mich von ihm extrem angesprochen gefühlt.“
Einen sehr überzeugenden Auftritt legte auch die gebürtige Hannoveranerin Katja Pieweck hin. Die Mezzosopranistin sang das Rezitativ und die Arie der Jeanne d’Arc „Adieu, forets“ aus der Oper Jeanne d’Arc von Peter I. Tschaikowsky (1840 – 1893). Sie gehört seit 1999 zum Ensemble der Hamburgischen Staatsoper und hat eine wirklich tolle Stimme mit einem beeindruckenden Volumen und einem wunderbaren tieferen Register. Auch die Strahlkraft in der Höhe ist enorm. Sie hat im Dezember 2015 eine ganz wunderbare Gertrud in Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ gegeben und wird diese Partie auch im Dezember 2016 singen.
Der Bass Wilhelm Schwinghammer, 39, hat zweifelsohne auch eine hervorragende Stimme. Er ist seit 2003 an der Hamburgischen Staatsoper engagiert und hat schon viele wunderbare Abende gegeben. Aber wer ihn im August 2015 bei den Bayreuther Festspielen in Richard Wagners „Das Rheingold“ als Riese Fasolt oder als König Heinrich der Vogler in Wagners „Lohengrin“ erlebt hat, den beschleicht das leise Gefühl, Schwinghammer singe auswärts, bei richtig großen Events, mit mehr Leidenschaft und mehr Virilität als an seinem Stammhaus in Hamburg, wo er im November einen sehr guten, resonanzreichen König im „Lohengrin“ gegeben hatte, aber das letzte Quäntchen Hingabe vermissen ließ.
An diesem Abend sang Schwinghammer die Arie des Daland „Mögst Du, mein, Kind, den fremden Mann willkommen heißen“ aus Wagners Oper „Der fliegende Holländer.“ Das war auch tadellos, das war sehr gut. Aber, sorry, Herr Schwinghammer, da geht noch mehr, da könnte mit ein wenig mehr Devotion noch ein ganz großer, ein unvergesslicher Auftritt gelingen.
Großen Eindruck hinterließ auch die Sängerin des letzten Beitrags: die US-Amerikanerin Heather Engebretson. Sie sang das bekannte „Over the Rainbow“ aus „The Wizzard of Oz“ von Harold Arlen (1905 – 1986). Die Sopranistin trat 2013 dem Soloensemble der Staatsoper Hannover bei. In der Spielzeit 2014/2015 wechselte sie an das Staatstheater Wiesbaden und ist seit dieser Spielzeit Ensemblemitglied der Hamburgischen Staatsoper.
Heather Engebretson hat mit ihren 26 Jahren bereits ein ganz unverkennliches Timbre – eine hervorragende Grundausstattung für eine sehr gute Opernsängerin. Die US-Amerikanerin hat eine sehr sinnliche Stimme, die wunderbar im tiefen Register einzunehmen vermag. Aber sie zeigt auch Klasse in der Höhe und konnte nach einem etwas zögerlichen Anfang auch dort brillieren. Über die Auswahl ihres roten Kleides, aber das nur am Rande, schieden sich die Geister. Die US-Amerikanerin hat auch schon am Royal Opera House Covent Garden in London gesungen: Im September 2015 als Barbarina in „Le nozze di Figaro“ von Wolfgang Amadeus Mozart und im Juni 2016 als Sophie in „Werther“ von Jules Massenet.
Auch die Mezzosopranistin Dorrotya Láng wusste mit der Arie des Juno „Hence Iris, Hence away“ aus der Oper „Semele“ von Georg Friedrich Händel (1685 – bis 1759) sehr zu überzeugen. Sie hat mit ihren 30 Jahren eine ganz wunderbare Tiefe und sang sehr schöne Koloraturen. Die Ungarin hatte bereits im Oktober eine wunderbare Cenerentola in Gioachino Rossinis gleichnamiger Oper gegeben. Im Dezember ist sie als Hänsel in „Hänsel und Gretel“ zu hören. Auf YouTube gibt es drei sehr schöne Hörproben von ihr: https://www.youtube.com/watch?v=wKx7Hga2vE8 und https://www.youtube.com/watch?v=C7Uy5spFfmI und https://www.youtube.com/watch?v=TuCHewdWNbQ .
Gesanglich aber fielen zwei Herren an diesem Abend leider ab. Der Tenor Jürgen Sacher, seit 1991 Ensemblemitglied, gab eine weniger überzeugende Arie des Jupiter „Where’re you walk“ aus Händels „Semele“ – das Vibrato des gebürtigen Augsburgers war nicht angenehm zu hören; in der Höhe fehlte die Strahlkraft. War der 56-Jährige nicht richtig eingesungen? Noch im November wusste er in der „Salome“ von Richard Strauss als Herodes klar zu überzeugen. Klassik-begeistert.de war sehr angetan von seiner „tollen, strahlenden Höhe und seiner wunderbaren Mittellage“. Damals bekam er das Prädikat des überzeugenden „Bitte-Sing-Weiter-Mannes“.
Das Ensemblemitglied Peter Galliard, 55, 1986 von Rolf Liebermann an die Hamburgische Staatsoper engagiert, gab eine unterdurchschnittliche Leistung ab. Der Schweizer sang zwei kurze Lieder, „Dorma bain“ von Nuot Phantoms und „Trost“ von Ralph Benatzky – und lag in den Höhen teilweise mehr als einen halben Ton zu tief. Das war kein Hörgenuss – an einem insgesamt sehr schönen Abend in der Hamburgischen Staatsoper.
Andreas Schmidt, 4. Dezember 2016
klassik-begeistert.de
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass an diesem Abend auch Franz Grundheber auftrat, der „Zueignung“ ganz prächtig sang. Daneben glänzte Gabriele Rossmanith mit Gustav Mahlers „Rheinlegendchen“. Das Musical-Finale wurde von Dovlet Nurgeldiyev angeführt, der damit bewies, daß er auch in diesem Metier reüssieren könnte; mit seiner Vielfältigkeit und Zuverlässigkeit ist er ein Goldstück innerhalb des Ensembles, das uns hoffentlich noch lange erhalten bleiben wird. Zu zwei Einschätzungen möchte ich noch gern meine Meinung sagen: Ich erinnere mich auch gern an Jürgen Sachers Herodes und würde hier nun seine Händel-Arie nicht so sehr abqualifizieren. Wirkliche Sorgen bereitet mir das Engagement von Heather Engebretson: Wenn man schon mit „Over the Rainbow“, das jede Film- und Musical-Diva (Ross, Minelli, Streisand …) eindrucksvoller interpretiert, derartige Probleme hat, was soll da aus einer Musetta werden? Und das rote Kleidchen war definitiv daneben.
Rolf Brunckhorst
Ein Bericht, der zumindest am Anfang, jenen , die, wie ich nicht dabei sein konnten, verspricht, entschädigt zu werden, in dem man sie mitreißt, ihnen, das Gefühl gibt, diesen Abend doch erlebt zu haben, wie es einige Berichte tun.
Doch dann… Mir ist bis jetzt nicht klar, welche der erwähnten Damen nun jene einzige ist, die sich „vollends in die Herzen der Zuschauer sang“? War es Nadezhda Karyazina, die ja laut Meinung des Berichtenden, „als einzige Europaformat“ hat? War es Heather Engebretson? Oder doch eher Dorrotya Láng, die sogarmit drei links zu YouTube belohnt wurde??
Dass Dovlet Nurgeldiyew , unumstrittener und berechtigter Weise, ein Publikumsliebling der Hamburger, eine berührend und begeisternd überzeugende Leistung lieferte, bezweifle ich keinen Moment. Darum nehme ich an, er ist der oben erwähnte einzige Mann, zumal die drei anderen leicht bis vernichtend kritisiert bzw. gar nicht erst erwähnt worden. Wie es bei drei der Damen, vier der Herren aus dem Ensemble und – wie ich finde- in respektloser Weise mit dem Stargast FRANZ GRUNDHEBER geschah. Er wurde in den vergangenen Tagen für seine 50jährige Ensemblezugehörigkeit geehrt.
Wie gesagt anfangs freute ich mich von jemanden etwas zu lesen, dessen Texte ich bisher noch nicht kannte, doch dann…
Schade. Vielleicht nächstes Mal.. konsequenter? Deutlicher? Vollständiger? Es wäre schön.
Liebe Frau Lucas, vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar. Europäisches Format hatten nach Einschätzung von klassik-begeistert.de allein zwei Sänger: Nadezhda Karyazina und Dovlet Nurgeldiyew. Andere Sänger waren auch noch sehr gut, aber nicht herausragend. Zwei überzeugten weniger. Dass manche Sänger gar nicht erwähnt wurden, liegt an den 15 (!) Auftritten. Dass Franz Grundheber 50 Jahre lang dem Ensemble angehört, ist sehr schön und ehrenwert. Seine Leistung an diesem Abend war allerdings nicht brillant. Mit besten Grüßen Andreas Schmidt
Herr Grundheber ist nicht nur seit 50 Jahren im Ensemble, hat nebenbei auch große Karriere gemacht, ist u.a. für viele heutige junge und ältere Baritone großes Vorbild. So ist er für viele der WOZZECK von Alban Berg. Zuletzt hat er seine „Altersrolle“, den Schigolch, mit sehr großem Erfolg in Madrid, Barcelona, den Salzburger Festspielen, Paris, Amsterdam und Met in New York und Wien aufgeführt freut sich auch schon auf seinen Schigolch in Alban Bergs Oper „Lulu“ nächstes Jahr an der Hamburgischen Staatsoper.
Er hat im Gegensatz zu vielen anderen seine Karriere langsam aufgebaut, ohne groß PR zu Hilfe zu nehmen, er hat seine Stimme sehr lange intakt gehalten, großen Wert auf Wortdeutlichkeit, Stimmfarben und Stimmausdruck gelegt.
Er ist 79 Jahre alt, singt vielleicht in Ihren Ohren nicht mehr brillant, aber eine ganz kleine Art von Werschätzung kann man voraussetzen.
Viele der heutigen Stars können oft schon mit 50 nicht mehr regelmäßig singen, weil ihre Stimmen kaputt sind. Und bei Domingo, der alles andere als brillant singt, geht ihr alle in die Knie.
Mir ist klar, dass Kunst nicht messbar ist und Geschmacksache ist, es ist aber nicht ein Spielfeld von persönlichen Vorurteilen.
Ihre Ausführungen sind über manche Sänger sehr umfangreich, also wäre auch Platz für ALLE Sänger gewesen. Schade, dass ihr wunderbarer Schreibstil immer wieder den Eindruck vermittelt, dass es ihnen Spaß macht, manche Sänger schlecht zu kritisieren.
Sehr geehrte Frau Tyn, vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar. Sie haben recht: Herr Grundheber hat mit seinen 79 Jahren in einem halben Jahrhundert an der Hamburgischen Staatsoper ganz außerordentlich und nachhaltig gewirkt. Ich durfte mich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder von der Größe und Brillanz seines Schaffens überzeugen an ihm erfreuen. Nun aber, an jenem Abend, war es so, dass Herr Grundheber mit seinem Vortrag nicht zu überzeugen vermochte. Bei der Vielzahl der Darbietungen (15!) habe ich mich dafür entschieden, seinen Beitrag nicht zu kommentieren. Auch andere Darbietungen, die nicht so auffällig waren, konnten nicht berücksichtigt werden, sonst wäre der Beitrag zu lang geworden. Keineswegs macht es klassik-begeistert.de übrigens „Spaß, manche Sänger schlecht zu kritisieren“. Ich liebe klassische Musik; ich liebe schöne Stimmen und bin begeistert, wenn diese schön dargeboten wird. Leider gibt es aber bisweilen Sängerinnen und Sänger, die im Gegensatz zu ihren Kolleginnen und Kollegen ein wenig abfallen im Vortrag. Dies zu beschreiben, ist dann auch Aufgabe dieses Blogs.