Photos © Jochen Quast (Theater Lübeck)
Faust
(Margarethe)
Oper in fünf Akten von Charles Gounod
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Takahiro Nagasaki, Dirigent
Kasper Wilton, Inszenierung
Arthur Espiritu, Tenor
Evmorfia Metaxaki, Sopran
Rúni Brattaberg, Bass
Jacob Scharfman, Bariton
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck
Theater Lübeck, Premiere am 17. November 2023
von Dr. Andreas Ströbl
Zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, danach strebt Faust, wie jedes deutsche Schulkind weiß, aber die Geschichte geht ja weiter. Bekanntlich begehrt der alternde Gelehrte aus dem 16. Jahrhundert bei seinem Pakt mit dem Teufel gar nicht danach, seinen Intellekt auszuweiten, sondern seine Jugend wiederzugewinnen, um sich endlich wieder der sinnlichen Liebe hingeben zu können.
Davon handelt natürlich Gounods Verarbeitung des Faust-Stoffes, der ja viel älter ist als Goethes Dramen „Faust I“ und „Faust II“, zuzüglich „Urfaust“ und Faust-Fragment. Das Volksbuch von 1587 geht im übrigen viel härter mit dem Titelhelden ins Gericht, als es Goethe tut und an dieser Stelle sei einmal auf Alfred Schnittkes Faust-Kantate „Seid nüchtern und wachet“ hingewiesen, die auf diese Quelle rekurriert – ein beeindruckendes Werk, das viel zu selten zu hören ist.
In Deutschland wurde Gounods Oper die längste Zeit unter dem Titel „Margarethe“ geführt und in der Tat ist diese tragische Frauengestalt ja weit mehr als „nur“ die Geliebte von Faust, die durch sein Verlangen letztlich ins Verderben gestürzt wird.
Der dänische Regisseur Kasper Wilton rückt in seiner Interpretation der Oper von 1859 Fausts Erkenntnis, dass er nichts weiß, immer wieder in den Fokus. Das ist bei diesem zum Suizid neigenden Intellektuellen aber keine sokratische und damit zu einer inneren Gelassenheit führende Erkenntnis, sondern pure Verzweiflung. Das Nichts droht als Inbegriff der Sinnentleerung im gesungenen und an eine Schultafel geschriebenen Wort „RIEN“ leitmotivisch die ganze Produktion hindurch.
Und so zeigt Wilton nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern, was sie zerreißt. Das sind vor allem die Gier nach Reichtum und der Krieg, der in dieser Produktion durch in allen Akten aufmarschierende, wild saufende und zu exzessiven Orgien neigende Soldaten immer wieder präsent ist. Sexuelle Übergriffe und Ausschweifungen werden sehr klar angedeutet, aber nicht wirklich ausgeführt – die Darstellung ist eindeutig obszön, ohne das Publikum allzusehr zu brüskieren. Ganz hervorragend ist die Choreographie von Ulla Benninghoven, denn Tanz und Orgiastik sowohl der Masse der Soldateska als auch der Einzelpersonen und Kleingruppen sind voller mitreißender Bewegung, bei Berücksichtigung individueller Ausprägungen.
Die Uniformen und alle anderen Kostüme von Camilla Bjørnvad sind modern bzw. zeitlos gestaltet, allein das frühneuzeitliche Kostüm der alten Marthe Schwerdtlein ist eine Reminiszenz an den Faust-Film mit Gustaf Gründgens und Will Quadflieg.
Camilla Bjørnvad hat auch das Bühnenbild entworfen, das in seinem Minimalismus Handlung und Musik in den Vordergrund stellt, aber durch Ebenen und absenkbare Wände klare horizontale und vertikale Strukturen schafft. Zusammen mit dem Licht von Falk Hampel entstehen Räume und Fluchten, die je nach Handlung trennen oder öffnen – die sparsam eingesetzten Requisiten und die Musik definieren die jeweiligen Orte. Eine zeitweise wiederkehrende Schwärze versinnbildlicht das Verlorensein im drohenden Nichts.
Es entsteht ohnehin von vornherein der Eindruck einer schlüssigen, harmonischen Einheit, denn angesichts der mitunter dramatischen Ereignisse und starken Emotionen der handelnden Personen dient die klare Dramaturgie von Jens Ponath der Konzentration auf das Wesentliche. Etwas unklar bleibt eine Masse von Spiegeln, die sich im dritten Akt herabsenken; Faust und Margarethe drehen zwei davon, spielen mit ihren Spiegelbildern und erkennen einander darin, aber was ist mit all den anderen? Symbolisieren sie die Möglichkeiten für andere Suchende? Das ist nicht eindeutig ersichtlich.
Klarer in der Aussage sind phallusförmige Objekte wie die Weinspritze am Schanktisch, aus der Mephistopheles das berauschende Getränk herausmasturbiert, oder der Schmuckschrein, der ein bisschen an das Flash-Gordon Raumschiff aus dem Film von 1980 erinnert. Rausch, Gier, Gold, Lust – da werden deutliche Assoziationen hergestellt.
Es wird in diesem „Faust“ auch nicht effektreich gezaubert, den langen Bart als Zeichen des Alters und der aufgesetzten Gelehrsamkeit hängt Faust sich selbst um. Er muss nicht durch eine Maske verjüngt werden, denn Wilton geht es nicht um billige Visualisierungen, sondern um die Offenlegung einer egomanen Persönlichkeit, die die Folgen des eigenen Handelns nicht wirklich erfasst. Am Ende beklagt Faust ja, dass Margarethe „ihr“ Kind umgebracht hat; Jens Ponath wird auf der Premierenfeier auch auf diesen bemerkenswerten Umstand hinweisen, dass es ja auch sein Kind war, was die verwirrte Mutter da als blutiges Bündel mit sich herumträgt, bevor sie in Zwangsjacke und Sicherheitsverwahrung gesteckt wird.
Dass die beiden Protagonisten letztlich nur Spielfiguren in der Hand höherer, finsterer Mächte sind (von einem gütigen Gott fehlt hier jede Spur), versinnbildlichen die gleich gewandeten Puppen, die Méphistophélès und die ihm in dieser Produktion an die Seite gestellte Gehilfin (Samantha Hoefer) immer wieder in den Händen halten und damit die Machtlosigkeit der echten Menschen beweisen.
Dieses Ausgeliefertsein, auch an seine eigenen Zweifel und seine Begierden, macht der philippinische Tenor Arthur Espiritu mit grandioser Stimmgewalt und phantastischer Höhensicherheit erlebbar. Er krönt diese Produktion mit Höchstleistungen in Gesang und gleichermaßen Spiel, wofür er immer wieder Szenenapplaus erntet. Den schenken die Lübecker auch allen anderen großen Solisten und nicht zuletzt dem Chor.
Faust zur Seite steht – nein – liebt, leidet und duldet Evmorfia Metaxaki als Margarethe, die mit tiefempfundener Innigkeit ihrer verletzlichen Seele ein tönendes Bild gibt. Die Sopranistin hat sich in manchen Szenen allerdings eher für eine zurückhaltende Darstellung entschieden, was die Dynamik angeht.
Fausts Vertragspartner im universaljuristisch üblen Sinne – gegen den Teufel kann man nur verlieren, wenn nicht Gottes Hand am Ende doch noch das große Steuer des Lebens herumreißt – ist der Bass Rúni Brattaberg, der hier aber so gar nicht mephistophelisch erscheint, sondern eher ein fieser Spaßmacher ist, der mit dem Leben der Menschen spielt. Brattaberg baut eine Reihe von Mini-Kabinettstückchen ein und feixt mit dem Publikum. Mehr davon wäre allerdings Klamauk. In den Tiefen ist er gewohnt füllig, ja voller höllenrachentiefer Töne, aber wenn es in die Höhe geht, muss er aufpassen, damit er nicht ins Gurgeln gerät.
Unter den teuflischen Machenschaften leidet auch Margarethes Bruder Valentin, den Jacob Scharfman gibt, und zwar mit vollem Einsatz. Stolz, Würde und Wut erhalten bei ihm greifbaren, ja aufrüttelnden Ausdruck; er muss sich mit seinem machtvollen Bariton nicht bemühen, den Gefühlen eines in den Grundfesten erschütterten Familien- und Prinzipienmenschen eine bewegende Stimme zu verleihen. Selten ist jemand aufrechter gestorben – dass der von Fausts Messer tödlich Verwundete noch eine ganze Weile umhergeht, ist eine bewusste Regieentscheidung, um Pathos zu vermeiden.
Laila Salome Fischer ist die von Gounod dazuerfundene Siébel bzw. in der weiblichen Form „Siébelle“, denn sie erscheint hier nicht in der Hosenrolle, sondern ist ein junges Mädchen, das in seiner Unschuld geradezu Schutzbedürfnis erregt. Die Änderung der Rolle hat eine Reduktion im vierten Akt zur Folge, weswegen man sich vorstellen muss, wie sie mit ihrem strahlenden Mezzosopran die fehlenden Partien gesungen hätte. Das, was sie bringt, ist wie immer von exquisitem Niveau.
Für die Mezzosopranistin Edna Prochnik ist die Marthe eine Paraderolle, denn ihr liegt die mütterliche Art mit einer warmen Weiblichkeit, die völlig unprätentiös und mit leicht humoristischer Brechung daherkommt. Besser kann man die Madame Schwerdtlein nicht besetzen.
Changjun Lee ist der Famulus Wagner und macht diese Nebenrolle mit seinem satten Bass zu einem echten Erlebnis.
Die größte Hauptrolle spielt selbstverständlich Gounods wunderbare Musik, die so fern von deutscher Schwere alles klanglich darstellt, was Worte und Bilder nicht vermögen. Unter dem Ersten Kapellmeister und stellvertretenden Generalmusikdirektor Takahiro Nagasaki zeigt das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck erneut, dass es sich hinter den großen Klangkörpern des Nordens nicht zu verstecken braucht. Mit feinem Gespür für Delikatesse in den zarten Passagen – Harfe und Klarinette brillieren besonders – und mächtigem Einsatz in den starken Tutti-Stellen bereiten sie ein dynamisch ausgewogenes Bett für Solistinnen, Solisten sowie den von Jan-Michael Krüger geleiteten Chor und Extrachor des Theaters Lübeck.
Der ist wirklich großartig – wuchtig in den Massenszenen, dabei vollkommen exakt und in Frauen- und Männerstimmen in allen Lagen sicher; dies schaffen alle Mitwirkenden auch in den Szenen, wo sie wild und besoffen tanzen und derbe Späße treiben.
Der begeisterte Schlussapplaus gilt allen Mitwirkenden und ausdrücklich dem sympathischen Regisseur und seinem Team. Caspar Sawade, Geschäftsführender Theaterdirektor, wird später auf der Premierenfeier erklären, dass dies die unkomplizierteste Zusammenarbeit seit 15 Jahren sei. Es geht eben auch anders, ohne Regiediktatur und Testosteron-Gehabe.
Ergebnis ist eine Produktion, die hier ausdrücklich empfohlen wird.
Die nächsten Aufführungen sind am 24. November, am 14. Dezember und am 21. Januar des neuen Jahres.
Stephen Sondheims Musical „Sweeney Todd“ Theater Lübeck, 14. Oktober 2023, PREMIERE
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Eugen Onegin Theater Lübeck, 2. September 2023, Premiere
Giuseppe Verdi, Simon Boccanegra Theater Lübeck, 12. Mai 2023 PREMIERE