https://de.wikipedia.org/wiki/Louis Spohr
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Die Epoche der Frühromantik war eine spannende Episode der europäischen Musikentwicklung. Angetrieben vom empfindungsgeleiteten Stil Beethovens wurden in dieser Zeit den späteren, von uns heutzutage immer noch als „Genies“ verehrten Komponisten, die Grundlagen gelegt. Musik war plötzlich nicht mehr nur Funktion und Aneinanderketten von Tönen. Sie sollte etwas bedeuten. Bewegen. Ergreifen. Aus sich selbst heraus sprechen. Kein Wunder, dass viele in diesem Geiste entstandene Werke uns bis heute noch präsent sind. Noch mehr dieser Werke sind jedoch gänzlich vergessen – verdrängt oder ignoriert. Ein Schicksal, das heute auch die Werke von Louis Spohr betrifft. Aber warum eigentlich?
Louis Spohr, auch unter seinem Taufnamen „Ludewig“ Spohr bekannt, war Zeit seines Lebens ein Gigant. Nach dem Tode von Beethoven (1827) galt er als der bedeutendste lebende deutsche Komponist. Erst mit Aufstieg von Schubert, Schumann und Mendelssohn-Bartholdy büßte erst seine unangefochtene Stellung ein. Seine Werke lassen sich stilistisch und von ihrer Ausdrucksstärke auch mit all jenen hier genannten Komponisten vergleichen. Und wie seine Zeitgenossen gehört er zu den Komponisten, von denen eine große Zahl von Kompositionen überliefert sind: Darunter alleine 18 Violinkonzerte, jeweils 10 Sinfonien und Opern und dutzende weitere Konzerte sowie Kammermusiken. Alleine die Anzahl seiner Kompositionen zementiert bis heute seine Stellung als einer der ganz Großen.
Trotzdem wird aus diesem reichen Fundus an Werken heutzutage so gut wie gar nicht mehr für den Konzertbetrieb geschöpft. Eigentlich eine Schande! Gerade auch vor dem Hintergrund einer historisch aufgeklärten Aufführungspraxis ist das ein nicht zu unterschätzender Verlust.
Sicher – im Vergleich zu anderen Hoch- und Spätromantikern mag seine Musik etwas in die Jahre gekommen sein. Nicht alles, was zu seiner Zeit ausdrucksstark gewirkt hat, dürfte heute noch seinen Zweck erfüllen. Auch ich muss zugeben, dass nicht jedes seiner Werke mich begeistern kann.
Gerade auch deshalb sollte man aber meiner Meinung nach den Fokus auf ebenjene Werke legen, die ihre Strahlkraft bis heute entfachen können. Die aus dem Fundus der Orchestermusik durch bewegende Momente, lyrische Melodieführung, starke Ausbrüche, reiche Kontraste und effektreiche Variation hervorstechen. Denn dahinter stehen sollte stets die Motivation, auch zu zeigen, wie spannend und ergreifend selbst „alte“ Musik sein kann.
Ein Paradebeispiel zur Erfüllung dieser Motivation meine ich, in der zweiten Sinfonie von Louis Spohr gefunden zu haben. Sicherlich sind die Violinkonzerte dieses einstigen Geigenvirtuosen eine Nummer für sich und die meisten von ihnen einen Blick wert. Und seine 4 Klarinettenkonzerte sollte man auch nicht verachten. Was in meinen Augen aber seine zweite Sinfonie im Vergleich zu anderen Werken von ihm besonders macht, ist der gemischte Fokus auf melodiöse Zärtlichkeit einerseits, expressive Ausbrüche andererseits und eine reichhaltige Instrumentation, die mehr bietet, als den auf Dauer doch sehr eintönigen Klang eines Soloinstruments oder der Streicher. In diesem Werk herrscht einfach Abwechslung!
Das merkt man bereits bei dem spannenden Einstieg in den ersten und gleichzeitig längsten Satz dieser Sinfonie. In einer starken Eröffnung kämpft das zunächst dramatisch klingende Einstiegsthema mit seinen lyrischen Gegenthemen, die von Oboe und Klarinette, später auch von der Flöte eingebracht werden. Aber auch Horn und Trompete treten immer wieder hervor und gestalten hier ein Spiel voller Kontraste und harmonisch überraschender Wendungen, in denen nie wirklich sicher ist, ob nun die Dramatik oder doch ein fröhliches Moment gewinnen wird. So vergehen selbst 12 Minuten fast wie im Flug. Und das, obwohl Spohr die Themen einige Male wiederholt, sodass sie sich auch nachhaltig festigen.
Der zweite Satz „Larghetto“ indes lässt sich als ein melodiöses Kleinod bezeichnen. Wie viele andere langsame Sinfoniesätze auch ist er sparsam instrumentiert und schreitet sehr gemächlich voran. Häufig bemängele ich dies in langsamen Sätzen, da es zu schnell langweilig werden kann. Dieser Satz ist mit etwa 5 Minuten Länge aber schon fast zu kurz. Denn Spohr konzentriert sich hier im Wesentlichen auf die Entfaltung des Hauptthemas, das er durch verschiedene Instrumentengruppen führt, bevor er es noch einmal wiederholt. Elemente, wie eine Durchführung oder Reprise sind hier bis aufs Minimum reduziert. Dieser Satz endet damit lange bevor eine Chance besteht, es in Langeweile ausarten zu lassen. Die Folge ist, dass der Zauber dieser Melodie einprägsam nachhallt.
Treibend, wenn auch für unsere heutigen Begriffe ein wenig „artig“, geht es im dritten Satz her. Dieses „Presto“ besticht vor allem durch den trabenden Rhythmus der Streicher, gegen den immer wieder Fanfarensignale anstoßen. Eine unterliegende Spannung stachelt diese Musik an, auch wenn der große Ausbruch, den man sich hier hätte vorstellen können, am Ende ausbleibt. Spohr entschädigt dafür immerhin durch ein lyrisches Gegenmoment zu dem Streichertraben, das den Satz letztendlich in eine dramatische Schlusswendung erhebt.
Im Finale der Sinfonie bricht Spohr dann noch einmal mit dem Bisherigen. Interessanterweise wirkt dieses „Vivace“ im Vergleich zu dem vorherigen „Presto“ bewegender. Ob dies an dem Fanfareneinstieg mit Pauken liegt, an den dezenten Orgelpunkten zum Trubel der Streicher oder an den filigran tanzenden Melodien der Flöte und Klarinette, die sich immer wieder als Zugpferde dieses Satzes herausstellen? Vermutlich ist eine Mischung aus all dem der Grund für die Pracht dieses Schlusses. Deutlich wird auch, dass er bereits von Anfang an einem prächtigen Finale entgegensteuert, das Spohr am Ende auch eingeleitet von einem erfrischend spritzigen Hornsolo erfüllt.
Gegen Schluss möchte ich nicht verheimlichen, dass diese Art von Musik heutzutage nicht jeden erreichen können dürfte. So würde ich auch nicht jedes von Spohrs Werken uneingeschränkt empfehlen (seine dritte Sinfonie aber auch einige seiner Vokalwerke langweilen mich zum Beispiel). Im Vergleich zu den späten Romantikern und Komponisten der Moderne fehlt ihm der Hang dazu, gekonnt Effekte einzusetzen. Und auch die Tendenz, das Mögliche der Instrumente zu erweitern, lässt sich in seiner Musik heute nicht mehr nachvollziehen. Vermutlich ist dieser Umstand auch der Grund dafür, warum Louis Spohr kaum noch gespielt wird. Bahnbrechend Neues wird man bei ihm nicht finden können.
Gleichzeitig wäre seine Musik aber eine weitere, edle Ergänzung zu den großen Klassikern, die unsere Konzertbetriebe prägen. Kompositorisch steht er Mozart, Beethoven, aber auch Schumann und Mendelssohn-Bartholdy in nichts nach. Sogar den frühen Brahms würde ich hier in die Wagschale werfen und behaupten, dass dessen Musik an Louis Spohr nicht vorbeikommt. Wenn also beim nächsten Konzerttermin wieder einer dieser Klassiker herhalten soll, warum dann nicht stattdessen mal Spohr? Im Gegensatz zu den inzwischen fast ausgelutschten Alternativen ist in seiner Musik viel Frisches zu entdecken. Darüber hinaus ist ihr Effekt mindestens so gut, wie bei den etablierten Werken. Und bei Laufzeiten von 20 bis 30 Minuten sind seine Werke auch sicher nicht zu lang. Vielleicht ist es am Ende also nur eine Frage des Muts? Ich bin sicher – es würde sich lohnen!
Daniel Janz, 10. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ ab November wieder!