© Todd Rosenberg Photography/Chicago Symphony Orchestra
Auf seiner „Farewell Tour“ mit dem Chicago Symphony Orchestra quer durch Europa dirigiert der Maestro gleich zwei Programme in Frankfurt am Main. Der erste Abend dort zeitigt ein reizvolles Programm und gerät phänomenal.
Anatoli Ljadow (1855-1914) – Der verzauberte See. Märchenbild für Orchester, op. 62
Igor Strawinsky (1882-1971) – Der Feuervogel. Suite für Orchester
Johannes Brahms (1833-1897) – Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 73
Chicago Symphony Orchestra
Riccardo Muti, Dirigent
Frankfurt, Alte Oper, 18. Januar 2024
von Brian Cooper, Bonn
Die laufende Saison ist nur so gespickt mit Tourneen der großen amerikanischen Orchester. Für die persönliche Konzertplanung bedeutet das: zweimal Boston, dreimal Philadelphia, zweimal Chicago, einmal Washington und einmal Dallas. Nicht schlecht für eine Saison. Und auch die Band aus Cleveland war im Oktober 2023 in Europa, aber die hatte ich diesmal nicht auf dem Schirm.
Hatte da nicht mal während der Pandemie ein allwissender Großblogger aus dem englischsprachigen Raum vollmundig erklärt, es werde auf Jahre hinaus keine Orchestertourneen geben? Sie sind allzu wichtig fürs Geld und fürs Renommee, als dass man darauf verzichten könnte, und außerdem kann das potente Mäzenatentum, das zum Teil einzelne chairs im Orchester finanziert, speziell organisierte Reisen buchen und so ganz nah am Orchester mitreisen – für einen fünfstelligen Betrag, versteht sich. So funktioniert das in Amerika, wo die Kultur weit weniger subventioniert wird als hierzulande. Europäische Fans exquisiter Orchesterkultur können nur dankbar sein, dass es bei uns (noch) anders ist und dass wir immer wieder auch die großen nichteuropäischen Orchester hören dürfen.
Das Chicago Symphony Orchestra (CSO) reist regelmäßig im Januar durch Europa und macht es sich und seinem Publikum damit nicht leichter. Nun machte es mit seinem Music Director Emeritus for Life, Riccardo Muti, für gleich zwei Programme Station in Frankfurt. Noch tags zuvor war der dortige Flughafen witterungsbedingt für einige Zeit komplett geschlossen, in weiten Teilen Hessens wurde vor extremem Glatteis gewarnt. Die Anreise aus Luxemburg dürfte für das Orchester nicht ohne Schwierigkeiten gewesen sein. Eisig ist’s dieser Tage da draußen. Immerhin hatte man am Mittwoch, also am Tag vor dem ersten Frankfurter Konzert, einen der wenigen freien Tage auf dieser Tournee.
Anatoli Ljadow hat nur ein paar Werke hinterlassen, die selten genug gespielt werden. Ab und an stehen immerhin Kikimora und Der verzauberte See auf dem Programm. Mit letzterem Werk beginnt der erste Frankfurter Abend. Und siehe da, der warme Klang zaubert einen verlassenen See in den Saal, möglicherweise ist es dunkel, in jedem Fall ist kein Mensch dort, es ist still wie auf einem Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich, beeindruckend musiziert und ein zauberhafter Einstieg in einen Konzertabend, der sich als herausragend herausstellen würde. Das Orchester klingt dunkel und warm, die klirrende Kälte draußen ist schleunigst vergessen, und erstaunlicherweise merkt man so gar nichts von Tourneestrapazen.
Es gibt eine interessante Verbindung zwischen Ljadow und dem weit berühmteren Komponisten, dessen Feuervogel-Suite vor der Pause folgte. Diese Verbindung führt über Sergei Djagilew, der zunächst Ljadow gebeten hatte, ein Ballett über den russischen Feuervogel-Märchenstoff zu komponieren. Der Komponist kam nicht aus dem Quark, hatte lediglich das Notenpapier besorgt, doch das blieb zu lange leer, und so vergab Djagilew den Auftrag entnervt an Igor Strawinsky. The rest is history.
Nach dem so sorgsam zusammengestellten Italien-Programm, das am Folgetag in Frankfurt und am Samstag in Köln auf dem Programm des CSO steht, dürfte auch die Ljadow-Strawinsky-Kombination kein Zufall sein. (Für Fans des Orchesters ist es ein wenig schade, dass sowohl in Essen als auch in Köln und Frankfurt dasselbe Programm gegeben wird, also innerhalb eines recht überschaubaren Radius; andererseits ist es mitnichten eine Strafe, das CSO zweimal mit demselben Programm zu hören – oder dreimal, wie der unersättliche Konzertfreund aus Bayern. Dennoch hätten wir Freunde russischer Sinfonik zu gern Prokofjews Fünfte gehört.)
Der Beginn der Feuervogel-Suite schließt atmosphärisch nahtlos an den Ljadow’schen Zaubersee an. Mein Begleiter und ich sind verzückt von den pulsierenden Bässen und der leisen Trommel zu Beginn, es wirkt im positiven Sinne nebulös, ehe Flöte und Oboe für Tauwetter sorgen. Mutis Zeichengebung ist oft bemerkenswert unauffällig, manchmal sind es nur hauchzarte Gesten, die er macht, doch man bemerkt stets den intensiven Blickkontakt zwischen Chef und Ausführenden. Den ganzen Abend über herrscht höchste Aufmerksamkeit.
Der Höllentanz jagt einem Schauer über den Rücken. Das Finale, eingeleitet von zittrig-geheimnisvollen Streichertremoli, klingt grandios. Das Horn-Solo: über allem erhaben. Muti ließ sich alle Zeit der Welt bei den so fantastischen Blechakkorden zum Ende, die selbst unter Jansons für meine Begriffe viel zu schnell vorbei waren. Hier war’s näher an Bernsteins kraftvoller Einspielung mit dem Israel Philharmonic Orchestra: pures Auskosten, man konnte alles genießen, es war vor allem nicht zu schnell vorbei. Die bestellte Gänsehaut stellte sich pünktlich ein, und das gleißende H-Dur rief bereits zur Pause begeisterten, dankbaren Applaus hervor.
Einzig die etwas zu langen Umblätterpausen riefen lästige Huster auf den Plan. Sie hätten garantiert nicht gehustet, wenn durchgespielt worden wäre. Ähnliches gilt für die Sinfonie, die nach der Pause erklang.
Ob Brahms’ Zweite der Sonderwunsch einer mysteriösen Person war? Nur ein einziges Mal steht sie auf dem Tourneeprogramm: Wer Mutis Brahms hören wollte, musste also nach Frankfurt am Main kommen. Und es wurde eine unsagbar schöne Aufführung. Breite Tempi, dichter Klang, ein Strahlen und Glühen, und das alles mit diesen erstaunlich sparsamen Gesten dirigiert – nur manchmal wandte sich Muti besonders intensiv an eine Gruppe, etwa an die ersten Violinen oder aber die Cellogruppe, die im zweiten Satz pure Schönheit in den Saal brachte.
Das Holz im dritten Satz – Oboe und Co. – spielte vorzüglich, es gab unendlich viele gelungene Details. Und das Ende dieses Satzes, das kein richtiges Scherzo ist, kam so leise, bescheiden und schlicht daher, dass man ergriffen war. Geheimnisvoll begann der letzte Satz, und strahlend endete er im triumphalen D-Dur. Auch hier wurde alles aufs Herrlichste ausgekostet; von Hast keine Spur. Das Orchester: groß besetzt; der Klang: niemals zu dick aufgetragen.
Die stehenden Ovationen ließen zunächst ein wenig auf sich warten, kamen aber dann doch; das Orchester dankte mit einem glutvoll dargebotenen Intermezzo aus Puccinis Manon Lescaut.
Ungefragt wurde mein Begleiter beim Applaus von seinem Nebenmann angequatscht, der sich bemüßigt fühlte, zu bemerken, Muti sehe aus, als habe er einen Stock verschluckt. „Haltung“, erwiderte mein Begleiter schlagfertig. Da war er still, der Nebenmann. Der Großteil des Frankfurter Publikums wurde an diesem Abend von des Grandseigneurs Grandezza verzaubert.
Dr. Brian Cooper, 19. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
FAREWELL TOURNEE Riccardo Muti, Chicago Symphonie Orchestra Philharmonie Essen, 14. Januar 2024
Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, Reger und Strauss Frankfurt, Alte Oper, 7. November 2023
Sächsische Staatskapelle Dresden, Thielemann Alte Oper, Frankfurt, 14. September 2023