Die Erinnerungen tauchen ein in eine Zeit, wo Plattenspieler nur eine Abspieldrehzahl von 78 Umdrehungen pro Minute hatten. Die Chanteusen Lucienne Boyer und Caterina Valente spielen eine Rolle und die Erfahrung und das Ausprobieren der eigenen Stimme. Nicht die Pädagogik, sondern das, was sich menschlicher Berechnung entzieht, wurde entscheidend.
„Die Irmi aus Zurndorf hab’ ich gern,
sie lehrt mich Lieder von Vöglein und Himmelsstern.“
…dichtete meine Mutter zu obigem Foto im Familienalbum.
von Lothar Schweitzer
Das wird in meinem Unbewussten schlummern. Die folgenden zwei Jahre Kindergarten haben keinen besonderen Eindruck hinterlassen. Haben wir dort je Lieder gesungen? Ich kann mich zumindest nicht erinnern. Ich bin auch ohne Begeisterung hingegangen. Ganz anders empfand ich die Volksschule (= Grundschule). Wegen einer starken Erkältung krankgeschrieben und vom Unterricht befreit habe ich geweint.
An meinen Volksschullehrer Josef Schuster denke ich bis heute gern. Aber wie jeder Lehrer waren seine pädagogischen Talente in den Fächern sehr verschieden. Schon in der zweiten Klasse Volksschule übten wir eine Fabel zu dramatisieren. Aber weder in Musik noch in Zeichnen (heute: Bildnerische Erziehung) gewann ich für später das notwendige Rüstzeug.
Meine Mutter und meine Tante schwärmten für Chansons mit Lucienne Boyer, die sie auf einem alten Plattenspieler, auf dem man nur Schellackplatten spielen konnte, in Erinnerung an ihre Twen-Jahre immer wieder auflegten, bis das Gerät durch die Änderung des Gleichstroms auf Wechselstrom für immer verstummte. Da gab es einen Text, in dem sie sich versprach und scheinbar daran war etwas Indiskretes mitzuteilen. Rechtzeitig sang sie dann „oh“, um mit ihrem Lied fortzufahren. Ich wartete als kleiner Bub gern auf diese Stelle. Man hat mir erklärt, sie hätte versehentlich eine falsche Strophe begonnen.
Auch das Fach Musik im Gymnasium war kein Lieblingsfach für mich. Es ähnelte in meinen Augen zu sehr dem Unterricht in Mathematik. Dann begannen die Teens. In der Freizeit suchte ich geschickt einen Radiosender der Schlager spielte. Rückblickend drehten sich viele Texte um Urlaubsträume. Nicht so oft war es die Südsee, oft viel bescheidener wurde Spanien oder das benachbarte Italien besungen. Es wäre damals noch für peinlich empfunden worden, nur seine Gefühle und seine Beziehungen zur Umwelt zu outen. Literarisch interessant waren in der Regel die Texte nicht.
Als Rosemarie Isopp Louise Martini als Moderatorin in der populären Radiosendung „Autofahrer unterwegs“ ablöste, führte sie sich bei mir gut ein mit Pat Boones „I’ll be home, my darling, please wait for me“. Ein Klassenkamerad, der viel von Musik verstand, klärte mich auf, dass trotz dieses Erfolgsschlagers Frankie Laine mit seinem unverwechselbaren Bariton der bessere Sänger sei.
Bei Schulausflügen sangen wir gerne die gängigen Schlager. Freddie Quinns „Brennend heißer Wüstensand“ sang ich während meines Stimmwechsels bereits in der Bassbariton-Lage Freddie Quinns. Meine Mutter glaubte, ich spräche mit der Sprechstimme künstlich hinuntergedrückt: „Lothar, sprich nicht so tief!“ Mit dem (Miss)Erfolg, dass meine Knabenstimme immer heiserer wurde. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt war dann beruhigt, dass ich auch mit Männerstimme sprechen kann und mit dieser verließ ich auch die Ordination. Er vermutete eine zu flache Atmung und ich bekam die Aufgabe wie Sänger Atemübungen zu machen. Mit einer Stoppuhr in der Hand holte ich mit Zwerchfellatmung tief Luft und ließ dann ein A, ein E und ein O erklingen. Die Vokale U und I lagen zu gefährlich hoch. Bald konnte ich über 60 Sekunden den Ton halten.
In der Buchbesprechung „Die Sängerstimme“, Schweitzers Klassikwelt 103, danke ich Freddie Quinn, dass er mich von einer schwer heilbaren Fistelstimme bewahrt hat.
Neben der Begeisterung für Schlager las ich regelmäßig die Teens-Zeitschrift „Bravo“, wo Filme das bevorzugte Thema waren. Auch Schlager kamen mit Filmen unwillkürlich in Verbindung. Meine Lieblingsschauspielerin wurde Gina Lollobrigida. Für den in Kürze anlaufenden Film „Der Glöckner von Notre Dame“ mit ihr als Esmeralda bereitete ich mich mit der Lektüre des gleichnamigen Romans von Victor Hugo vor, der dem Film als Basis diente. Der Film „Die schönste Frau der Welt“ handelte von der Opernsängerin Lina Cavalieri. Es wurden Ausschnitte aus „Tosca“ gebracht, welche mich nicht sonderlich beeindruckten.
Als ich mir zu Weihnachten 1957 einen Plattenspieler wünschen durfte, um nicht auf den Zufall angewiesen zu sein, wann endlich ein Lieblingsschlager im Radio zu hören war, stellte sich heraus, wie viele Singles von Caterina Valente, die aus einer Zirkusfamilie stammte, dabei waren. Das kann nur der Zauber ihrer Stimme gewesen sein! Ein Stimmfetischismus begann. Einige kostbare Tonaufnahmen gab es damals nur auf den alten Schellackplatten mit 78 und nicht 33 1/3 Umdrehungen pro Minute, wo gerade ein Lied auf einer Seite Platz hat. Dazu gehörte ihr wunderbares Lied „Schwarze Engel“.
„Ihr Maler lasst Euch etwas sagen…“ begann ihre, ich würde sagen, Mezzo-Stimme.
Die zweite Strophe begann mit: „Warum malt Ihr nur weiße Engel…“. Und in der dritten Strophe die Frage: „Warum denkt Ihr denn nie daran, dass leicht ein Engel schwarz sein kann…“.
Mein Lieblingslied „Granada“ erhielt ich als Weihnachtsgeschenk gleich zweimal. Einmal natürlich mit Caterina Valente und einmal von einem gewissen Mario Lanza gesungen. Der Name Mario war in Österreich noch nicht geläufig. Ich dachte zuerst, es sei eine Frau.
Einige Wochen vor Weihnachten hatte ich noch die Idee die Staatsoper in ein großes Kino umzubauen. Weihnachten 1957 brachte die Wende. Doch das ist eine andere (die nächste) Geschichte.
Lothar Schweitzer, 11. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt 103: Die Sängerstimmen klassik-begeistert.de, 12. Dezember 2023
Schweitzers Klassikwelt 110: Sopran oder Mezzosopran? Mezzosopran oder Alt?
Schweitzers Klassikwelt 54: Lieblingssängerinnen, klassik-begeistert.de