Inmitten von Richard Wagners letzter, wohl schönster Oper „Parsifal“, klafft eine Wunde, die sich nicht schließen will, Qualen, die nicht aufhören möchten, ein Sehnen, das nicht erstillt, kurzum: „Alles schreit“. Am Ende wartet die Erlösung, doch an diesem Abend in München verlässt man die Oper weder verwundet, noch gereinigt, geschweige denn erlöst.
Richard Wagner, Parsifal
Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
Musik und Dichtung vom Komponisten
Constantin Trinks, Dirigent
Orchester der Bayerischen Staatsoper
Pierre Audi, Regie
Georg Baselitz, Bühnenbild
Bayerische Staatsoper – Nationaltheater © Wilfried Hösl
Bayerische Staatsoper, 31. März 2024
von Leander Bull
„Schattig und ernst, doch nicht düster“ ist der Wald in Richard Wagners letzter Oper Parsifal laut Bühnenanweisungen des Meisters – durchaus auch eine Beschreibung der Musik selbst. Es sind mystische, sphärische Klänge, die der Komponist beschwört, kühl und klar, doch ebenso zärtlich und weihevoll. Selbst der sich zum Antichristen stilisierende Friedrich Nietzsche konnte sich nicht der Aura dieses Werks entziehen, als er das Vorspiel zum ersten Mal hörte und fragte: „Hat Wagner je etwas besser gemacht?“
Genau so mutet der Wald im Gralsgebiet in der Münchener Inszenierung des Regisseurs Pierre Audi an. Dem Bühnenbild, geschaffen von niemand geringerem als dem Maler Georg Baselitz, gelingt es zunächst, mit seiner finsteren Romantik eine stilsichere Atmosphäre der Wehmut zu schaffen: Inmitten von kargen, schwarzen Bäumen sitzt der Gralsritter Gurnemanz, der, wie auch seine Brüder im Glauben, einzig noch Hoffnung schöpft aus der Prophezeiung des reinen Toren, der „durch Mitleid wissend“ werden soll. Wie gewohnt setzt Georg Zeppenfelds edler, schwarzer Bass dabei Maßstäbe; die langen Monologe über die Vorgeschichte der Gralsgemeinschaft fesseln durch die herausragende Textverständlichkeit dieses stets verlässlichen Sängers. Man hängt ihm an den Lippen, wenn er vom Raub des heiligen Speeres erzählt, der als einziges Heilmittel die keuschen Ritter aus ihrer Krise erlösen kann („Nur eine Waffe taugt…“).
Schnell jedoch wird inszenatorisch klar, warum Wagner einst darüber klagte, nicht auch noch das Theater unsichtbar machen zu können. Der junge Tor Parsifal, mit dem der Tenor Clay Hilley durchaus ein überzeugendes Debüt in dieser Rolle liefert – ist sein heller Tenor stets sicher, auch wenn es ihm manchmal an Volumen fehlt – tritt auf und fragt Gurnemanz in berührender Einfalt: „Wer ist der Gral?“ Das sagt sich nicht, gewiss, doch ebenso unangebracht ist es, wenn einer Inszenierung nichts und wieder nichts einfällt, sich dieser Frage anzunähern. Keine der philosophischen Ideen, die Wagners synkretistischer Mischung aus christlicher Mitleidsethik und buddhistischer Weltverneinung eingeschrieben sind, werden von der Inszenierung erkundet. Vielmehr bebildert sie das Werk geistlos und im Grunde genommen völlig banal.
Keineswegs jedoch heißt dies, die Regie würde sich zugunsten der Musik zurücknehmen und in den Hintergrund rücken. Nein, der an diesem Abend überraschend schief singende Chor der Gralsritter darf sich auch noch vollständig entblößen, um nackt in blutverschmierten Fatsuits diverse schlaff hängende Körperteile preiszugeben. Wer darin eine Provokation oder Obszönität sieht, macht es dieser Inszenierung noch zu leicht, liegt das Problem doch weniger im grotesken Gehalt dieser Darstellung, als vielmehr in ihrer völligen Bedeutungslosigkeit. Weder Traditionalisten, noch Anhänger des modernen Regietheaters (man munkelt, es gibt sie) kommen bei dieser sinnfreien Regie auf ihre Kosten.
Dass der Schmerz der unheilbaren Wunde des Gralskönigs Amfortas, das Sinnbild des „furchtbaren Sehnens“ nach Erlösung, dennoch vollständig zur Geltung kommt, liegt allein an Christian Gerhahers famoser Darstellung dieser zerrissenen Figur, die doch sonst in Aufführungen des Parsifal oft zu kurz kommt. Seine verstörenden Schmerzensschreie, die nur so um Erbarmen betteln, sind qualvoll schroff und lassen dabei dennoch eine so lyrische Zärtlichkeit durchschimmern, wie man sie selten zu hören bekommt – eine Sensation!
Die ohnehin schon fehlende Personenregie erreicht im zweiten Aufzug daraufhin ihren Tiefpunkt, wobei das beschmierte Bettlaken als Bühnenbild nicht hilft. An die Stelle des revolutionären Musikdramas tritt hier die übelste Art des einfallslosen Rampensingens, sodass Jochen Schmeckenbechers überzeugender Klingsor, bei dessen kernigem Bariton eine gesunde Portion seines ebenso bitterbösen Alberichs mitschwingt, leider wenig Möglichkeiten bekommt, sich zu entfalten. Auch von der erotischen Verführung, die der Zaubergarten als Gegenbild der keuschen Gralswelt verkörpert, ist hier keine Spur, dürfen die Blumenmädchen, unauffällig gesungen von den Damen Lee, Foor, Lewis, Rognerud, Boom und Zhang, auch in blutigen Fatsuits auftreten. Einzig Irene Roberts als Kundry sorgt dafür, dass die sinnliche Verlockung spürbar wird. Ihr schöner Mezzosopran verfällt nie zu sehr ins Schrille, stets bleibt ihre Stimme weich und wunderbar klar. Zu dieser faszinierenden Rolle, der wohl vielschichtigsten Frauenfigur im gesamten Werk Wagners – ist sie doch Büßerin und Verführerin, unterjocht und frei zugleich – hat die Regie leider ebenfalls nichts zu sagen.
Dabei hilft es nicht, dass musikalisch auch so manches auf der Strecke bleibt. Constantin Trinks setzt als Dirigent hörbar auf Klarheit, die den Gral nicht so sehr in ein mystisches Gewand hüllt, als sie ihn hell erstrahlen lässt. Oft trägt er dabei jedoch zu dick auf, sodass die zärtlichen Klänge der Partitur nicht selten untergehen. Die schleppenden Tempi sorgen dabei nicht dafür, mehr Feingefühl in die Interpretation zu bringen, sondern verschalten sich vielmehr auf fatale Weise mit der Leere der Inszenierung. Im zweiten sowie dritten Aufzug gelingt es Trinks und dem Orchester der Bayerischen Staatsoper besser, einen musikalischen Bogen zu spannen, wozu auch die deutlich ansprechendere Personenregie beiträgt, sodass am Ostersonntag in München doch noch ein kleiner Karfreitagszauber auf der Aue blüht.
Was bleibt, ist der himmlische Schlusschor, der mit der rätselhaften Formel „Erlösung dem Erlöser!“ beweist, dass selbst bei geistlosen Inszenierungen wie dieser die Musik in der Oper stets das letzte Wort hat. Wer ist der besagte Erlöser, der am Ende selbst erlöst wird? Ist es der junge Parsifal, der sein Dasein als triebgesteuerter Tor überwindet? Ist es Amfortas, dessen Wunde sich endlich schließt? Gar Kundry, die von ihrem Fluch befreit wird? Oder ist es nicht vielmehr Wagner selbst, der sich mit diesem „Weltabschiedswerk“ ein Monument erschuf?
Es war der Münchener Wagner-Verein, der nach dem Tod des Meisters einen Kranz mit der Inschrift „Erlösung dem Erlöser!“ an seinem Grab niederlegte – ein Umstand, der Friedrich Nietzsche dazu veranlasste, gehässig anzumerken: „Viele aber auch (es war seltsam genug!) machten an ihr dieselbe kleine Correctur: ‚Erlösung vom Erlöser‘ – Man athmete auf.“ Leider muss zugegeben werden, dass man selbst als eingefleischter Wagnerianer am Ende dieses Abends nicht umhin kommt, erleichtert aufzuatmen.
Leander Bull, 2. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ich bin kein Opernfachmann, habe mich mit dem Stück aber auseinandergesetzt und die Aufführung in dieser Spielzeit zweimal besucht.
Ähnlich wie bei Lohengrin klafft ein breiter Spalt zwischen Inszenierung und musikalischer Leistung.
Herr Bull hat meiner Meinung nach völlig recht mit seiner Ohrfeige für Bühne und vor allem Kostüme.
Es ist beschämend, was hier an Mangel zutage tritt. Unfähig, die symbolischen Tiefen des Werks spürbar zu machen, versucht hier ein Baselitz mit dem einfallslosen Bühnenbild diesem Bühnenweihspiel seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Schlimmer noch die Kostüme der Gralsritter oder der Blumenmädchen. Der Kritiker trifft den Kern des Problems mit dem Verweis auf die augenfällige Belanglosigkeit der Darstellung.
Nicht zu entschuldigen sind aber auch etliche Weglassungen bei der Inszenierung.
So bleibt der Speer nicht über Parsifal schweben, er entreißt ihn dem Klingsor. Oder bei der symbolträchtigen Szene in der Kundry dem Parsifal die Füße wäscht. Wer käme da auf die Analogie zu den Angriffen des unter dem Baum sitzenden Buddhas seitens eines böswilligen Magiers?
Oder auf die Anspielung auf Maria Magdalena?
Die Besetzung der Rollen war auf hohem Niveau. Roberts gelang es die Vielschichtigkeit der Kundry hervorragend herauszuarbeiten. Hilley gab einen überzeugenden Toren ab, sollte aber daran arbeiten, diese Torenhaftigkeit mit fortschreitender Handlung glaubwürdiger abzulegen.
Zeppenfelds Leistung kam nicht überraschend, ist dennoch beachtlich.
Auf mich hinterließ Gerhaher als Amfortas an beiden Abenden den stärksten Eindruck. Völlig authentisch die Darstellung des Verfalls der Figur im ersten Aufzug und die dramatische Steigerung im dritten Aufzug. Perfekt herausgestellt die trotzig-zornige Verweigerung seiner Pflicht nachzukommen.
In meiner Einschätzung ein Höhepunkt schauspielerischer und sanglicher Leistung im Jahr 2024 an der BSO, gleichzusetzen mit den Auftritten von Serena Sáenz als Lucia Ashton.
Der Karfreitagszauber reduzierte sich auf eine Beleuchtung der tristen Szenerie in violetten und rötlichen Tönen. Wem das Stück nicht bekannt ist, dem wäre das gar nicht weiter aufgefallen.
Mich erstaunt in allen Kritiken nur, dass nicht klar erkannt wird, um wessen Erlösung es im Kern geht. Nur so viel: Ganz sicher nicht um die des Amfortas!
Harald Geiger