Serie Neu: Mein Weg zum Opernliebhaber war unorthodox

Serie Neu: Mein Weg zum Opernliebhaber war unorthodox  klassik-begeistert.de, 12. April 2024

Semperdepot Wien/In Erinnerung gebliebener Geheimtipp denkwürdigen Musiktheaters ©  Adsy Bernart-Photography

von Lothar Schweitzer

25. Dezember 1957. Wie ein Discjockey legte ich eine Schallplatte nach der anderen auf. Darunter „Bonjour, Kathrin“ eine Langspielplatte mit Gesangsnummern aus dem gleichnamigen deutschen Film mit Caterina Valente und Peter Alexander. Als schmückendes Beiwerk lag auf dem Gabentisch auch ein Querschnitt der Oper „Carmen“. Warum gerade „Carmen“? Durch viele Schlager wurde für mich Spanien zum interessanten, leider noch fremden Land. Außerdem sollte eine Tonaufnahme mit klassischer Musik nicht fehlen. Ich hörte mir zunächst nur eine Seite der Platte an. Nach „Granada“ von der polyglotten Caterina Valente interpretiert, war ich auf die zweite Version mit dem mir unbekannten Mario Lanza gespannt.

„Flor de melancolía que yo te vengo a daaaar.“ Diese letzte Silbe war kein Spitzenton, aber nahezu endlos gehalten. Das beeindruckte mich. Lebendige Erinnerungen an meine ärztlich verordneten Atemübungen wegen meiner Schwierigkeiten beim Stimmwechsel kamen hoch. Auf diesem Gebiet noch unerfahren wusste ich nicht, dass Aufnahmen manipuliert werden können.

Mario Lanza hat dieses Lied, um einen modernen Begriff zu verwenden, werkgetreu interpretiert. Der mexikanische Komponist, Sänger und Entertainer Agustín Lara hat einen Liedzyklus über spanische Städte in der Art und Weise von Opernarien geschaffen. Nicht die Habanera, nicht das Torerolied, nein, „Granada“, komponiert von Agustín Lara, wurde zum „connecting link“.

Nach den Feiertagen war mein erster Weg in ein Schallplattengeschäft, um musikalisch mehr von dem Italo-Amerikaner kennen zu lernen. Eine LP unterm Arm mit Operatic Arias kehrte ich heim.

„Una furtiva lagrima“ wurde zu meinem neuen Lieblingsschlager. Es war die Stimme, die in Bann zog, nicht das Gesamtkunstwerk. Von den Inhalten der Oper, aus denen die Arien stammten, und wie man diese Opern auf die Bühne bringen kann, hatte ich nur vage Vorstellungen.

 

 

Ein paar Tage darauf wurde die erste Oper vor Ort zum Fehlschlag: „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss mit dem tiefsinnigen Libretto Hugo von Hofmannsthals. Ich ahnte nicht, dass dieses Werk einmal zu meinen meistbesuchten Opern gehören würde. Aber eine Stimme fiel mir auf, die nur im Vorspiel zu hören war. Sie gehörte Paul Schöffler, der den Musiklehrer sang. Also zurück zum italienischen Repertoire. Es beeindruckten in den nächsten Wochen „Tosca“ und „Madama Butterfly“. Dann wurde die österreichische Erstaufführung von Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ beworben. Titelrolle: Paul Schöffler! Hindemith klingt einfach gut, ob Oper oder später Kammermusik. „Geile Musik“ hörten wir einmal in der Straßenbahn den Kommentar junger Leute nach einer „Cardillac“-Aufführung.

Die weitere Bildung erfolgte dann gleichsam wieder „literarisch“. Einerseits durch interessiertes Studium von Schallplattenprospekten. Es wiederholten sich Namen, mit denen ich vorderhand nur Stimmlagen verbinden konnte. So Gottlob Frick, Dietrich Fischer-Dieskau und Margarete Klose. Hier zog ich sehr viel Gewinn von der Deutschen Grammophon Gesellschaft. Andrerseits durch Sammeln von preiswerten Opernquerschnitten der Firma Decca, Durchmesser 25 cm, wo die Stimmen auch erklangen. Also ein Zwischending zwischen Literatur und live, so zu sagen ein Experiment im Laboratorium. Auf diese Weise lernte ich Opern genauer kennen. Otello, Rigoletto, Der Rosenkavalier, Don Giovanni.  Cesare Siepi sang im „Rigoletto“ den Sparafucile, im „Don Giovanni“ den Titelhelden. Deshalb mied ich später hellstimmige Baritone wie Waechter und Skovhus in der Rolle des Don Giovanni. Die Registerarie und das Menuett, währenddessen Leporello Masetto von seiner Zerlina ablenkt, wurden für mich zu Schlagern. Es ist heute ein gutes Zeichen, wenn ich bei einer Don Giovanni-Aufführung nicht verleitet bin, die Stimmen der unzähligen Male aufgelegten LP mit zu hören.

Nicht vergönnt war mir Cesare Siepi auf der Bühne zu erleben. Aufregend war Aldo Protti, den Rigoletto der Decca-Aufnahme, das erste Mal direkt zu hören.

Richard Strauss ist nicht gleich nur „Der Rosenkavalier“. Ich besuchte „Elektra“. Das war das erste Mal ein Schock. Beim zweiten Versuch ein Jahr später nach einer „Salome“ ging es schon besser.  Auch „Ariadne auf Naxos“ gab ich eine zweite Chance, was zu einer meiner meistbesuchten Opern führte.

Die letzte Wagner-Oper „Parsifal“ wurde zu meinem ersten Richard Wagner-Erlebnis. Seither liebe ich seine Musik, zu den Inhalten bin ich heute distanzierter eingestellt. Die Jugend liebt keine Dialektik. Eine Zeit gab es für mich nur Wagner. Ausnahme: Richard Strauss. „Pelléas et Mélisande“ von Claude Debussy war dann eine Offenbarung.

„Das verfluchte Geisterschiff“ ist eine sehr gute Bearbeitung von Wagners „Der fliegende Holländer“ für Kinder, welches die Problematik des Liebestods von Senta geschickt umschifft.

Als Wanderoper durch das Gebäude der Wiener Staatsoper © Irene Neubert

Als ich mit meinem zehnjährigen Enkel Aeneas nach der Vorstellung ins Freie trat und ich ihn nach seinen Eindrücken im Vergleich zu unserem gemeinsamen Besuch des Salzburger Marionettentheaters mit „Hänsel und Gretel“ fragte, antwortete er mir spontan, dass das heute ja keine Oper war. Das Dargebotene war mit seinem großen Anteil an gesprochenem Text und viel Pantomime keine Werbung für die Kunstrichtung Oper, eher für das Musical, welches mit seinem spezifischen Verhältnis zwischen gesprochenem Wort und Gesang in unsrer Zeit größere Publikumsschichten anspricht.

Ich stehe solchen Bemühungen Kinder für die Oper zu begeistern skeptisch gegenüber. Aus meiner Erfahrung kommt einmal die Pop-Musik dazwischen. Auf der anderen Seite kann ich nicht von meinem Stimmfetischismus ausgehen und so auf andere schließen.

Ein Jugendfreund von mir ist von Lortzings „Zar und Zimmermann“ für die Oper begeistert worden. Diese Oper wirkt heute altvaterisch. Aber verursacht eine für Kinder aufbereitete „Zauberflöte“ nicht eine falsche Vorstellung von einer Oper? Ein Schlüsselerlebnis hatte ich bei einer Aufführung von Alberts „Tiefland“. Zehn- bis Zwölfjährige waren am Anfang noch hörbar unruhig, aber lauschten nach dem Vorspiel vom ersten Akt an gebannt der Musik und den Sängern und Sängerinnen. Für die Pädagogik bin ich ein schlechtes, unberechenbares Beispiel. Aber ein Musikerlebnis kann wie eine Offenbarung wirken, die einen nicht behutsam einführt, sondern unvorbereitet und überraschend trifft.

Im Laufe der Jahrzehnte haben dann Inhalt und Text ein ausgewogeneres Gleichgewicht zur Musik gefunden. Einen Twen kann mangels Lebenserfahrung Bacchus’ Worte zu Ariadne „Ich sage dir, nun hebt sich erst das Leben an für dich und mich“ noch nicht so rühren. Auch die Szenen einer Ehe in „Pelléas et Mélisande“ sind trotz der herrlichen Musik von Claude Debussy für einen Achtzehnjährigen nicht begreifbar. Man/frau muss Vater oder Mutter geworden sein, um die Aussprache zwischen Wotan und Brünnhilde ganz mitfühlen zu können.

Welche Opern zählen heute zu meinen Favoriten? Es sind Stücke, die einen besonderen Bezug zum eigenen Leben haben. Doch weil ein Outen nicht angebracht ist, sollen sie ein Geheimnis bleiben.

Lothar Schweitzer, 12. April 2024, für
klassik-begeistert. de und klassik-begeistert.at

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