Auf den Punkt 10: Was erwartet Gabriel Feltz (53 Jahre) an der Kieler Förde? Timur Zangiev (29 Jahre) gibt die Antwort mit Tschaikowski 5. Und wie!

Auf den Punkt 10: Was erwartet Gabriel Feltz (53 Jahre) an der Kieler Förde? Timur Zangiev (29 Jahre) gibt die Antwort mit Tschaikowski 5. Und wie!  klassik-begeistert.de, 19. Mai 2024

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Arvo Pärt (*1935) – »Fratres« (Version für Perkussion und Streicher)

Daniel Michael Kaiser (*1976) – »White, Vanishing« (2022)

Pjotr I. Tschaikowski (1840–1893) – Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64 (»Schicksals-Sinfonie«)

Philharmonisches Orchester Kiel
Timur Zangiev- Dirigent

Philharmonie in der Wunderino Arena, 19. Mai 2024

von Jörn Schmidt und Regina König

Schleswig-Holsteins Landeshauptstadt steht zur Zeit musikalisch ziemlich im Schatten der Thomas Mann & Hansestadt Lübeck. Während Stefan Vladar dort zu recht gefeiert wird, hat man sich in Kiel unlängst zusammen mit Ludger Vollmer an der Buddenbrooks-Oper verhoben und der aktuelle GDM ist ohnehin schon auf dem Sprung nach Chemnitz. Mit Gabriel Feltz ist ein formidabler Nachfolger mit Expertise im hochromantischen Repertoire gefunden, der viel Hoffnung auf einen hoffentlich kommenden neuen Kieler Ring macht.

Aber was erwartet Feltz an der Kieler Förde? Einen Vorgeschmack gab’s am 19. Mai in der Wunderino Arena, wo sonst der THW Kiel Handball spielt. Wobei THW in diesem Falle nicht für das Technische Hilfswerk steht, sondern für Turnverein Hassee-Winterbek e.V. von 1904. So sieht’s da auch aus, den Weißwein gibt’s in Plastikbechern, aber die Akustik der Arena ist mehr als akzeptabel.

Philharmonie in der Wunderino Arena © Musikfreunde-kiel.de

Ist ein Dirigent noch nicht so recht bekannt, sorgt die Presseabteilung für die nötige Begleitmusik. So auch der Pressetext des Philharmonischen Orchesters Kiel: „Timur Zangiev hat sich in letzter Zeit zu einem der aufregendsten und gefragtesten Dirigenten seiner Generation entwickelt. Im Alter von nur 29 Jahren hat er bereits mehr als 45 Opernproduktionen geleitet und mit vielen internationalen Orchestern zusammengearbeitet, darunter alle bedeutenden Klangkörper seines Landes.“ Derlei blumige Worte hätte gar nicht bedurft, wenn ein junger Russe einen alten Russen dirigiert und dem das Werk eines estnischen Vertreters der Neuen Einfachheit voranstellt.

Zudem gab’s  „White, Vanishing“ von D.M. Kaiser, eine Komposition, die den Klimawandel hörbar machen möchte. Irgendwie klang’s  ein wenig nach dem Gesang der Buckelwale, was aber nicht am Orchester lag, sondern an einem Zuspieler, aufgenommen in Svalbard (Spitzbergen), einem Dorf 1.200 km südlich des Nordpols. Dort nämlich hatte der Filmmusik-Komponist mit Unterstützung des  Alfred-Wegener-Instituts weiße Klänge auf Tonspur eingefangen und zurück in Berlin mit seiner Komposition, ein Wortspiel sei erlaubt, verschmolzen.

Der erste Teil („White“) wollte die Schönheiten des Polarkreises beschreiben, u.a. waren Schneeammern, Eissturmvögel und Eisstücke im Wasser zu hören. Der zweite Teil („Vanishing“) befasste sich  mit der Vergänglichkeit des ewigen Eises, stellvertretend wurden Geräusche von Slush-Eis, Tautropfen im Schnee, brechendes Eis usf. eingespielt. Die Komposition griff die Geräusche auf, das geriet indes wie ein Soundtrack. Aber Daniel Michael Kaiser firmiert ja auch in erster Linie als Komponist für Musik in Film und Hörspiel. Für den Tatort zum Beispiel.

Die Kombination mit Arvo Pärt war klug, jetzt wissen auch nicht synästhetische wahrnehmende Menschen, dass „Fratres“ weiß klingt. Denn das Kaiser-Weiß hatte viel von Pärts Werk, bloß leider nicht dessen Binnenspannung. Während bei Kaiser das schmelzende Eis friedlich tröpfelte, entfachte Zangiev bei Pärt Hochspannung.

https://de.wikiquote.org/wiki/Arvo_Pärt

Überhaupt war Zangiev eine Entdeckung, das begann schon mit seiner Gestik. Dirigenten-Jungstars neigen zuweilen dazu, den Baton mit einem Schwert zu verwechseln. Und wenn ihnen das Dirigierfenster zu klein zu werden scheint, denkt man, das Tänzelnde könnte jeden Moment in einen Breakdance übergehen. Ganz anders Zangiev, er benötigte ein fast schon altersmildes Dirigierfenster, geerdet auf Zwerchfellhöhe. Zuweilen reichte das Zucken eines kleinen Fingers, und das Orchester folgte. Und wie!

Im Leben ist die Kombination von erdrückendem Schwermut und tänzerischer Lebensfreude in der Regel keine gute Sache. Da landet man schnell mal in der Facharztpraxis, um den Verdacht auf bipolare Störungen oder manisch-depressive Erkrankungen abklären zu lassen. Das endet gerne mal in einer Ärzte-Odyssee. Ähnlich ergeht es dem Schicksalsmotiv in Tschaikowskis 5. Sinfonie. Nicht nur, dass es in so ziemlich alle Instrumentengruppen durchgereicht wird. Es macht auch immer wieder Begegnung mit einem manisch anmutenden Walzer-Thema.

Timur Zangiev © timurzangiev.com

Da braucht es schon einen altersweisen Dirigenten, damit das gutgeht? Mitnichten, in Kiel hat ein Jungspund zu einer faszinierenden Lesart gefunden. Das Schicksal lief hier nicht gegen die Wand, was übrigens auch ein guter Ansatz gewesen wäre und Landsmann Tugan Sokhiev so macht, sondern es durfte sich „con anima“ lautstark austoben. Über die Sätze hinweg nahm das Thema immer mehr Lebensmut an, was sehr klug über die  immer heller werdenden Klangfarben erreicht wurde. Damit das nicht in Übermut umschlug, bleiben die Tempi eher langsam und getragen, wobei einem Abreißen des Spannungsbogens mit federnder Rhythmik und einer großen Dynamik vorgebeugt wurde. Auch das geht also schon wenn man jung an Jahren ist.

Zugegebenermaßen traf Zangiev auf ein potentes Orchester mit begeisterten Musikern, aber die Liebe der Musiker hat er sich erarbeitet. Durch jugendlichen Charme, Ehrerbietung gegenüber der Musik und mit großer Ernsthaftigkeit – beginnend beim Outfit, einem Frack am Vormittag, und offensichtlich akribischer Vorbereitung. Die Ausbildung bei Gennady Rozhdestvensky half natürlich, aber das dort Erlernte überträgt sich natürlich nicht ohne entsprechendes Charisma auf das Orchester.

Kein Einsatz der Blechbläser war verwackelt, das berühmte Hornsolo lupenrein und ein Trigger für die Glandula lacrimalis, dazu war die Reaktionsfähigkeit aller Instrumentengruppen beeindruckend. Wechsel in Tempo, Lautstärke, Rhythmus und Klangfarbe gelangen spielerisch. Gabriel Feltz wird seine Freude haben. Müssen sich die Lübecker nun warm anziehen? Sicher nicht,  Stefan Vladar sei Dank, aber die Hansestadt bekommt hoffentlich schon bald wieder ernstzunehmende Konkurrenz in den bundesweiten Feuilletons. Bei Handball und Fußball spielt Kiel ja auch schon 1. Bundesliga.

Jörn Schmidt und Regina König, 19. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

W. A. Mozart, Le nozze di Figaro Staatsoper Hamburg, 17. Mai 2024 klassik-begeistert.de, 17. Mai 2024

D. Schostakowitsch, Lady Macbeth von Mzensk Staatsoper Hamburg, 16. Mai 2024

Auf den Punkt 7: Stanislav Kochanovsky  akklimatisiert sich schon mal und schlägt dem Tod ein Schnippchen klassik-begeistert.de, 10. Mai 2024

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