Rosa Feola © J-Berger_ORW-Liège
Der größte Feind des gelingenden (Musik-)Theaters sind nicht schlechte, sondern belanglose Aufführungen. Es ist also zweifelsohne die schwierigste – aber auch die vornehmste – Aufgabe eines Opernhauses, große Kunstwerke den Anwesenden als persönlich hochgradig bedeutsam darzustellen. An dieser Aufgabe scheitert das königlich-wallonische Opernhaus in Lüttich mit seiner Neuproduktion von Vincenzo Bellinis I Capuleti e i Montecchi. Es gelingt so zwar ein musikalisch durchaus geschmeidiger Abend, der insgesamt jedoch in seiner Aussage und Wirkung raumgreifender Belanglosigkeit anheimfällt.
I Capuleti e i Montecchi
Maurizio Benini, Dirigent
Orchester und Chor der Opéra Royal de Wallonie-Liège
Allex Aguilera, Regie und Bühnenbild
Opéra Royal de Wallonie-Liège, 20. Mai 2024
von Willi Patzelt
Wohl kein Sujét hat im Laufe der letzten vier Jahrhunderte mehr Leute in ergreifende Rührung oder rührende Ergreifung versetzt als das jener zwei veronesischen Verliebten, deren Liebe auf Grund der politischen und persönlichen Verfeindung ihrer Familien nicht sein durfte. So schrieb es uns William Shakespeare in den 90er-Jahren des 15. Jahrhunderts in Romeo und Julia in genial-packender Form für die Ewigkeit auf.
Doch es ist gerade dieser so ikonische Stoff, der – sofern er nicht mit antiquiertem Kitsch billig auf die Tränendrüse drücken möchte – bei schlechten Umsetzungen leicht der Belanglosigkeit anheimfällt. Dies erkennend, war es von Bellini und seinem Librettisten Felice Romani ein hochgradig gelungener Kniff, die originale Geschichte nicht unerheblich abzuändern und den erzählerischen Fokus sehr auf die politisch-familiären Verfeindungsdynamiken – insbesondere im Capulet’schen Clan – zu legen.
All diese Feinheiten deutet die Inszenierung höchstens an. Das Bühnenbild hält sich grau-in-grau; zwischen zwei hohen grauen Mauern befindet sich ein betonierter Innenhof mit Wasserstelle, in dessen Mitte sich immer wieder ein grauer Quader, in eine Richtung geöffnet, dreht und in seinem Inneren einen weiteren grauen Raum schafft. In diesem – sonst freilich auch – findet gelungene Personenregie statt, die durchaus das eine oder andere starke Bild produziert.
Alles in allem können jedoch auch seltsam anmutende und – noch viel schlimmer – durchaus sinnlose (im wortwörtlichen Sinne) Videoanimationen dem ganzen Geschehen keine wirkliche Richtung geben. Warum Bellini und Romani beispielsweise die Capulets und Montagues mit den Welfen und Waiblingern in Verbindung brachten, vermag diese Inszenierung ebenso wenig zu vermitteln wie eine sonstig wirklich erhellende Deutung des Stoffes. Am Ende an allem schuld ist Giuliettas Vater Capellio. Die Mitglieder beider Familien sind über ihn dann auch reichlich erbost. Nun ja. Der Applaus für das Regieteam fällt ähnlich aus wie die Inszenierung selbst: Keine Bravos, keine Buhs, verhaltenes Klatschen, während manche Gedanken wohl schon wieder ganz woanders sind… Denn noch nicht einmal die Tränendrüse wurde bedient.
Musikalisch wirkt der Abend über viele Strecken ebenso recht gleichgültig. Das Tempo ist oft recht schleppend; die Phrasierung wirkt zuweilen so, als überließe man sie dem Zufall. Verlass war meist nur auf sehr dicke Ritardandi. Dass die staubtrockene Akustik des Hauses hierbei nicht wirklich förderlich ist, versteht sich von selbst.
Und dennoch: Es gibt an diesem Abend auch einige wenige Momente, die an fesselnder Schönheit nicht zu übertreffen sind. Wie Leuchttürme ragen sie heraus und berührenden einen zutiefst, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet. Beispielsweise ist das so herzzerreißende Klarinetten-Solo im zweiten Akt inniger und schöner nicht vorstellbar. Und auch das berühmte Highlight des ersten Akts – Giuliettas Cavatina O quante volte – wird zum groß angelegten emotionalen Kulminationspunkt. Denn mit Rosa Feola ist die Giulietta wirklich optimal besetzt: Ihre herrlich jugendliche Stimme reizt das ganze Klangfarbenspektrum dieser musikalisch reichen Rolle aus und setzt den Maßstab für den Abend. Mit stets perfekt geführter Stimme und durchgängig vollkommener Phrasierung gelingt Belcanto vom Allerfeinsten.
Das Warten auf Romeo in O quante volte sollte sich dann auch lohnen: Denn Raffaella Lupinaccis Romeo ist nämlich ebenso umwerfend – zumindest nach anfänglichen Unsicherheiten. Sie füllt diese Hosenrolle mit ihrem durchaus dramatischen Sopran auf das allerbeste aus und überzeugt daneben auch schauspielerisch auf ganzer Linie. Feola und Lupinacci sind eine optimale Besetzung für das tragische Liebespaar. Bellinis Idee, ganz in der Tradition früherer italienischer Romeo-und-Julia-Opern, mit zwei Frauenstimmen eine innige stimmliche Verschlingung der Titelrollen zu kreieren, zeigt an diesem Abend ihren gelingenden Reiz.
Ebenso überzeugend ist Adolfo Corrado als Lorenzo. Nicht nur sein warmer und doch kerniger Bass weiß die gesanglich zuweilen etwas undankbar wirkende Rolle musikalisch detailreich auszudeuten. Sondern auch schauspielerisch ist Corrado stets hochgradig präsent und versteht es, der Figur des Lorenzo – die durch Romanis und Bellinis Veränderungen der Shakespeare’schen Handlung wohl etwas an Vielschichtigkeit verloren hat – ein interpretatorisch sehr überzeugendes Gesicht zu geben.
Schauspielerisch fallen Roberto Lorenzi als Capellio und Maxim Mironov als Teobaldo in ihrem recht statischen Spiel deutlich ab. Ersterer vermag jedoch mit seinem dunklen Bass seine gesanglichen Qualitäten auszuspielen. Maxim Mironovs Teobaldo misslingt hingegen völlig: Er kämpft sich an der Partie ab; die Höhen wirken gepresst und unangenehm scharf, und eine wirklich gelingende Phrasierung, die ja gerade im Belcanto so stilprägend ist, findet sich so gut wie gar nicht.
Insgesamt kann – dem fulminanten Titelpaar zum Trotz – eine alles in allem dennoch schöne sängerische Leistung mit gelingender Personenregie den Abend nicht wirklich retten. Sicherlich hätte es eine gute halbszenische Aufführung werden können. Doch die eigentliche Aufgabe des Musiktheaters wird verfehlt, denn weder Dirigent noch Regisseur vermögen es, an diesem Abend den Zuhörer in Bellinis I Capuleti e i Montecchi den Zuhörer gleichermaßen durch éleos und phóbos emotional zu involvieren.
Man kam, sah und ging wieder. Darin erschöpfte sich der Abend. Ärgern musste man sich jedoch auch nicht. Zum einen lohnte sich das Kommen schon für Klarinettensolo und Titelpaar. Und das gleichsam Schlimmste, was die abendliche Belanglosigkeit schuf, war auch nicht mehr als die an den Gesichtern des Publikums ablesbare Gleichgültigkeit.
Willi Patzelt, 21. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Antonín Dvořák (1841-1904), Rusalka, Neuinszenierung Opéra Royal de Wallonie-Liège, 25. Januar 2024