Schweitzers Klassikwelt 117: Lebten wir Opernfans in unsrer Gymnasialzeit in einem Elfenbeinturm? Oder: Wozzeck versus Carmen

Schweitzers Klassikwelt 117: Lebten wir Opernfans in unsrer Gymnasialzeit in einem Elfenbeinturm? Oder: Wozzeck versus Carmen  klassik-begeistert.de, 25. Juni 2024

Foto: Werbeplakat Teatr Wielki, Warszawa

Vergeblich versuchte unser Musiklehrer Paul Lande, „alternative“ Opern uns schmackhaft zu machen. Viel gab es in den Fünfzigerjahren an der Wiener Staatsoper da ohnehin nicht zu erleben. Für die OpernliebhaberInnen in meiner Klasse endete der Expressionismus mit der „Elektra“ von Richard Strauss/Hugo von Hofmannsthal.

von Lothar und Sylvia Schweitzer

„Oedipus Rex“ von Strawinsky als ein Vertreter der Moderne interessierte uns wegen des lateinischen Texts, der sich in der Aussprache von dem gelernten Schullatein unterschied. Zum wiederholten Mal wurde im Musikunterricht Alban Bergs „Wozzeck“ zitiert: „Wir arme Leut! Da setz’ einmal einer Seinesgleichen auf die moralische Art in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut!“

Aber man spielte diese Oper des Hochexpressionismus durchschnittlich bloß dreimal in der Saison. Zum Synonym für den Wozzeck wurde der Bassbariton Walter Berry. Unser Klassensprecher „Willi“, auch der beste Aufsatzschreiber, imponierte die Textstelle: „Meine Seel stinkt nach Branntewein.“ Wir anderen bevorzugten „Carmen“ mit den trotz seiner Tücken (siehe Torerolied) leichter singbaren Folge von Tönen.

Célestine Galli-Marié als Carmen Henri Lucien Doucet, Marseille Museum

Obiges Bild stammt von Henri Lucien Doucet. Wie unterschiedlich wird hier im Gegensatz zu dem Werbeplakat von Josef Fenneker eine Romni vorgestellt. Das Portrait stammt aus der Spätromantik, das Plakat zeichnet Carmen als Proletarierfrau im Stil einer Käthe Kollwitz.

Célestine Galli-Marié als Carmen, Marseille Museum

Sind „Carmen“ und „Wozzeck“ genauer betrachtet sehr unterschiedlich? Es gibt äußerlich gesehen viele Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen handelt es sich um einen Totschlag aus Eifersucht, Carmen arbeitet in einer Zigarrenfabrik als Arbeiterin, auch das militärische Milieu spielt in beide Handlungen hinein. In die Carmen wurde seitens der Regie gern eine Philosophie der Freiheit hinein interpretiert, obwohl Carmen mit ihrem unsteten Wesen ganz einfach nur die Lust an ihrem Don José verloren hat.

Marie und Wozzeck sind von Georg Büchner und Alban Berg differenzierter, wenn auch gröber gestaltet. Auf die Psyche der beiden wird mehr eingegangen. Wozzeck ist ein komplizierter Charakter. Beide Dramen spielen zur selben Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Oper von Bizet handelt konkret in Andalusien mit seiner kunsthistorisch bedeutenden Stadt Sevilla, was Fernweh und romantische Gefühle weckt.

Alcázar in Sevilla © mauritius images

Wozzeck lebt in einer namenlosen Garnisonsstadt unter wohl skurrilen Menschen ohne jegliche Romantik.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 25. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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