Sir Simon Rattle © Astrid Ackermann
Auch beim Debüt des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks kam man nicht an dem Jubilar Anton Bruckner vorbei. Das Orchester unter dem aktuellen Chefdirigenten legte eine brillante Aufführung mit vielen interessanten Details hin; nachhaltig war der Eindruck leider nicht. Und davor kam das erklärungsbedürftige Werk „Aquifer“ des britischen Komponisten Thomas Adès.
Thomas Adès: „Aquifer“ für Orchester (2023)
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4 in Es-Dur „Romantische“
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Dirigent: Sir Simon Rattle
Wolkenturm, Grafenegg, 30. August 2024
von Herbert Hiess
Das Werk (wenn man der Beschreibung des Komponisten glauben kann) bezeichnet quasi „eine grundwasserführende Gesteinsschicht… Vielleicht wurde Adès kompositorische Phantasie auf eindringliche Weise…, deren Hohlräume energetisches und architektonisches Potenzial besitzen“.
Der Autor des Artikels im Programmheft bezeichnet die handschriftliche Manuskript-Partitur so: „…entsteht durchaus das Bild – oder die Vorstellung – einer höchst kunstvoll orchestrierten und in Musik gesetzten unterirdischen Wasserstromwelt“.
Das ist fast wie nach der Einnahme eines Placebo-Medikamentes; wenn die Beschreibung der Auswirkungen und Nebenwirkungen sehr suggestiv ist, spürt man das auch wahrscheinlich. Egal, wie wirkungslos das Placebo ist.
Wenn man sich absichtlich ein Werk ohne vorheriges Studium begleitender Artikel anhört, kann man am besten die musikalische Sinnhaftigkeit bemerken.
Das siebenteilige Werk ist kompositionstechnisch perfekt gesetzt und könnte allesmögliche abbilden; ob das tatsächlich Gesteinsschichten plus Wasser ist, sei der Phantasie des Hörers überlassen. Auffallend ist, dass im Artikel des Programmheftes dazu auch viele Fragezeichen und „Vielleicht“ auftauchen; also selbstverständlich intuitiv ist das Werk nicht. Wenn man schon bei der Metapher „Placebo“ ist; offensichtlich müsste man VORHER dazu einen Beipackzettel verfassen und diesen vor allem lesen und verstehen.
Thomas Adès schrieb das Werk für das Orchester zum 75-jährigen Jubiläum und für die erste Spielzeit Sir Simon Rattles 2023/24.
So kam das Grafenegger Publikum in den Genuss dieser Aufführung, die – wenn schon nicht unmittelbar verständlich – exzellent war. Kein Wunder bei diesem Orchester und Dirigenten.
Ebenso perfekt war die „Romantische“ Symphonie, die Sir Rattle wie immer sehr strukturiert, transparent und interessant von den Bayern spielen ließ. Exzellent wie immer die Musiker; allen voran das berühmt-berüchtigte Hornsolo, das der junge Mann mit Bravour meisterte.
Die vier Sätze wurden exzellent interpretiert; Rattle ließ viele Schattierungen hören. Vor allem der zweite Satz „Andante quasi Allegretto“ wurde berührend von den Streichern (mit gedämpften Seiten) gespielt; hier hatte Rattle größtenteils die großen Bögen im Überblick; gerade bei der Coda mit dem Marschrhythmus der Pauken hatte man ein bisschen das Gefühl, als ob es zerfallen könnte. Exzellent das Scherzo und das volksliedhafte Trio.
Das Finale „Bewegt, doch nicht zu schnell“ war dann doch manchmal etwas zu schnell. Auch hier wurde die Schlusscoda etwas „verhudelt“. Wenn man das einmal live unter Celibidache hören konnte, der die einzelnen Noten fast im Stillstand spielen ließ, möchte man das nie wieder anders hören.
Es war ein gelungenes Debüt der Bayern mit Sir Simon Rattle in Grafenegg, das vielleicht noch etwas eindrucksvoller hätte sein können. Aber immerhin!
Herbert Hiess, 31. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Bayreuther Festspielorchester, Pablo Heras-Casado Wolkenturm, Grafenegg, 29. August 2024