Andris Nelsons, Daniil Trifonov und das Gewandhausorchester in der Philharmonie.
Köln, Philharmonie, 2. September 2024
Thomas Adès (*1971) – Shanty – Over the Sea
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) – Konzert Nr. 25 für Klavier und Orchester C-Dur KV 503
Anton Bruckner (1824-1896) – Sinfonie Nr. 6 A-Dur
Daniil Trifonov, Klavier
Gewandhausorchester Leipzig
Andris Nelsons, Dirigent
Andris Nelsons (Foto: Marco Borggreve)
von Brian Cooper, Bonn
„Mit welcher Sinfonie sollte man anfangen?“ So die schüchterne Frage an meinen Musiklehrer, als ich endlich bereit war, mir den Bruckner’schen Kosmos zu erschließen. Er riet zur Dritten. Heute würde ich zur Sechsten raten. Sie hat alles, was Bruckners Sinfonien ausmacht; sie ist mit einer Spieldauer von unter einer Stunde vergleichsweise kompakt; es gibt nicht diese verwirrende Anzahl verschiedener Fassungen (Haas, Nowak usw.), zu denen sich der so leicht zu verunsichernde Bruckner von seinen Kritikern überreden ließ; und sie enthält herrliche Themen, große Bögen und einen der schönsten langsamen Sätze des gebürtigen Oberösterreichers, der am 4. September 200 Jahre alt geworden wäre.
Zwei Tage vor diesem Geburtstag des bedeutenden Schöpfers sinfonischer Kathedralen gastierte das Gewandhausorchester in Köln. Und nur einen Tag nach den entsetzlichen Wahlergebnissen in Sachsen und Thüringen bewies „das älteste bürgerliche Sinfonieorchester der Welt“, so die etwas skurrile Eigenbezeichnung, dass es in Sachsen immer noch mehr Kultiviertes denn Barbarisches gibt. Denn so erhaben, so erhebend, wie diese Sechste – „meine Keckste“, so Bruckner – hört man selten dieses ohnehin nicht oft gespielte Werk.
Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, sichtlich gut drauf, hat viel von seinem Lehrer Mariss Jansons. Die Gesten sind über die Jahrzehnte kontrollierter geworden, minimaler. Ab und an klemmt er – wie Jansons – den Taktstock links unter den Arm und dirigiert nur mit den Händen.
Und er überraschte in den ersten drei Sätzen mit Tempi, die an Sergiu Celibidache erinnerten. Diese Langsamkeit hatte zur Folge, dass vieles extrem transparent wurde: die messerscharf akzentuierten Noten in den Violinen ganz zu Beginn (hohes Cis); die 2-gegen-3-Bewegungen im Kopfsatz, im zweiten Satz gar 5 gegen 3; die geradezu majestätisch aufspielenden Kontrabässe, die ein befriedigend solides Fundament boten; und schließlich die Durchhörbarkeit der eruptiven Forte-Stellen, die Nelsons und seine Wunderband aufs Köstlichste auskosteten, sowie der Triolenbewegungen, die dem Ganzen einen Fluss gaben. Auch schienen die Tempi niemals zäh, niemals statisch, da Nelsons nicht versäumte, auch mal anzuziehen.
Herrlich erklang dann der langsame Satz, wie so oft bei Bruckner ein Adagio. Es kam förmlich aus dem Nichts. In diesem Satz gibt es übrigens eine Folge von fünf Tönen, die Leonard Bernstein – bewusst oder unbeabsichtigt – eins zu eins in seiner West Side Story für „There’s a Place for Us“ verwendet hat. Inmaculada Veses spielte auf ihrer Oboe beeindruckend klagende Seufzer, die auf dichtem Streicherklang gebettet waren. Stark beeindruckt war ich auch im Trio des Scherzos von den vier Hörnern. Das Finale mit seinem Tristan-Zitat („Mild und leise“) wurde überraschend zügig genommen. Ebenso überraschend war die sekundenlange Stille im Publikum nach den letzten Takten. Gänsehaut. Geht doch!
Der Abend hatte mit einem kurzen Werk für Streichorchester von Thomas Adès begonnen, dessen Œuvre nicht zuletzt durch Simon Rattle gefördert wird, der in seinem Antrittskonzert bei den Berliner Philharmonikern Asyla aufgeführt hatte. Zum hier dargebotenen Shanty – Over the Sea schreibt „Gewandhauskomponist“ Adès: „In den gleichbleibenden Bewegungsabläufen der Seemannslieder steckt die Sehnsucht nach Freiheit, der Drang, gegen die harte, mechanische Routine aufzubegehren, und der Traum von einem sicheren Hafen im Jenseits.“ Klar herauszuhören waren in der ersten Hälfte des Werks Wellenbewegungen, gepaart mit ätherischen Flageoletten und Pizzicati. Bisweilen wirkt das Stück wie die Parodie eines schlechten Schulorchesters, bevor der Streichersound in der zweiten Hälfte satter wird und das Stück schließlich in D-Dur-Stille erstirbt. Auch hier gilt dem Publikum ein Lob, dass es nicht ungeduldig in die Stille hineinklatschte.
Vor der Pause folgte Mozarts 25. Klavierkonzert mit Daniil Trifonov als Solist. Der hatte noch vor wenigen Tagen in Salzburg mit einem Solorezital und einem fabelhaften 1. Klavierkonzert von Beethoven begeistert. Auch in Köln legte Trifonov eine beeindruckend perlende Virtuosität an den Tag, mit viel Wärme und einer atemberaubenden Musikalität. Das Orchester spielte im Kopfsatz eine kultivierte Einleitung. Die Soli von Flötistin Katalin Kramarics überstrahlten im langsamen Satz den feinen Gesamtklang und standen dem sanglichen Spiel des Solisten in nichts nach. Im letzten Satz dann pure Lebensfreude, freilich mit nachdenklich zurückgenommenen Stellen wie der Passage in F-Dur. Insgesamt hätte das Orchester aber viel lauter nicht spielen dürfen, denn sonst wäre viel Feines aus dem Steinway nicht zu hören gewesen. Trifonov bedankte sich für den anhaltenden Applaus mit einer Tschaikowski-Zugabe aus Dornröschen, arrangiert von Mikhail Pletnev.
Mein Siegerländer Sitznachbar konnte nicht fassen, wie viele Menschen nach dem Applaus aufsprangen, um den Saal zu verlassen. Auch die an diesem Abend etwas kärglich anmutenden Blumensträuße kommentierte er mit einem Augenzwinkern: Da hätte man ruhig noch 15 Euro drauflegen können. In jedem Fall war es an diesem Abend, abgesehen von der Unhöflichkeit des Losrennens, ein für Kölner Verhältnisse diszipliniertes Publikum, das bis auf einen doofen Zwischenapplaus nach dem zweiten Satz des Klavierkonzerts grundsätzlich bereit war, ein paar Sekunden innezuhalten, bevor es applaudierte. Das wünschte man sich häufiger.
Bemerkenswert, dass die Saisoneröffnung in Leipzig noch bevorsteht. Das Konzert am kommenden Freitag ist übrigens (spontan?) als „Demokratie-Konzert“ betitelt…
Brian Cooper, 3. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Was meinen Sie mit entsetzlichen Wahlergebnissen? Vielleicht sollen demnächst Musiker des Gewandhauses, die nicht die Kartellparteien gewählt haben, bestraft werden? Niemand interessiert in einer Konzertbesprechung Ihre politische Meinung, oder sind wir schon wieder soweit?
Thomas Hannig
Sehr geehrter Herr Hannig,
ich stimme Dr. Brian Cooper zu: Die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen sind
ENTSETZLICH. Der Osten verabschiedet sich von der Demokratie, von der er 40 Jahre
in Unterdrückung, Folter, Todesgrenze, Bespitzelung, Misswirtschaft und Diktatur geträumt hat.
Andreas Schmidt, Herausgeber
Sehr geehrter Herr Hannig,
gern beantworte ich Ihre Frage. Mit „entsetzlichen Ergebnissen“ meine ich das Erstarken einer in Sachsen und Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei, der sogenannten „Alternative für Deutschland“, deren Vertreterinnen und Vertreter zum Teil faschistoide Tendenzen sowie einen eklatanten Mangel an Empathie gegenüber Schwächeren an den Tag legen, für Ausgrenzung stehen, den Holocaust verharmlosen und sich insgesamt menschenverachtend gerieren.
Sie lesen diesen Blog; ich darf daher unterstellen, dass Sie musikaffin und kulturinteressiert sind. Googeln Sie mal die Begriffe „Kulturpolitik“ und „AfD“. Wenn Sie gut finden, was Sie da lesen, sollten Sie vielleicht den Blog wechseln. Für den Moment darf ich Ihnen freundlich vorschlagen, meine Beiträge zu meiden, wenn Sie sich von Äußerungen über den Bühnenrand hinaus gestört fühlen.
Ihr Beitrag erinnert mich an jene Menschen im Konzertpublikum, die „Shut up and play!“ rufen, wenn sich beispielsweise ein Krystian Zimerman von der Bühne aus politisch äußert. Kultur ist politisch, ebenso wie Sport, auch wenn immer noch von Funktionären das Gegenteil behauptet wird. Das Leben ist politisch – zumindest für denkende Menschen.
Das Gewandhausorchester ist in Sachsen beheimatet, und am Vortag des Kölner Konzerts waren dort Landtagswahlen. Am Tag der Wahl selbst spielte das Orchester in Essen. Auch zu jenem Konzert finden Sie in Rezensionen Erwähnungen des Politischen. Alles fein säuberlich trennen, wie die sogenannte Alternative es gerne hätte, ist lebensfern und langweilig.
Dr. Brian Cooper