Foto: alte Uhr – Lizenzfreies Bild/Panther Media
Im Tod sind alle gleich, heißt es. Niemand findet es schön, zu sterben. Der Tod ist nun wirklich kein Spaß. Aber im Grunde sind das die einzigen Gemeinsamkeiten. Wie wir mit dem Tod umgehen, das ist höchst unterschiedlich. Man kann das Thema verdrängen oder Antworten in der Religion suchen. Philosophie kann äußerst hilfreich sein, mit der eigenen Sterblichkeit umzugehen. Desgleichen gibt es seit jeher ein kulturelles Zusammenspiel von Musik und Tod. Der Tod wurde mannigfaltig vertont, dazu fallen Ihnen sofort Beispiele ein. Aber wie klingt es, was der Sterbende hört? Kann man sterbend überhaupt noch hören und das Gehörte verständig eingeordnet werden? Eine kurze Recherche anlässlich Bruckners Totenuhr-Coda.
Münchner Philharmoniker
Tugan Sokhiev / Dirigent
Anton Bruckner / Sinfonie Nr. 8 c-Moll (Zweite Fassung)
Elbphilharmonie, Großer Saal, 31. Oktober 2024
von Jörn Schmidt
Auch wenn man das heutzutage zuweilen gar nicht glauben mag, für den Journalismus gibt es ethische Standards. Lange Zeit waren das allgemeingültige publizistische Grundsätze, die ohne Kodizes und dergleichen beherzigt wurden. 1973 hat der Deutsche Presserat eine Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln kodifiziert. Verleger und Journalisten haben diese Zusammenstellung abgesegnet, das Regelwerk firmiert seither als Pressekodex. Die aktuelle Fassung datiert auf 18. September 2024, ethische Grundsätze unterliegen offensichtlich dem Zeitgeist. Da muss man öfter mal nachjustieren.
Quellenangaben sind so ein Grundsatz. Will man davon nichts wissen, kann es schnell Ärger geben, wir haben dazu nachstehend etwas aus der aktuellen OPERNGLAS-Ausgabe (11 / 2024) einkopiert.
Zum Thema Journalistisches Recherchieren gibt es weitere Spielregeln. Das Deutsche Journalistenkolleg hat dazu eine Übersicht samt Leseprobe aus der Kurseinheit A010 Journalistisches Recherchieren online gestellt. Dort heißt es:
„Der Journalist nutzt für seine Recherche üblicherweise eine Vielzahl von Quellen wie Archive, Datenbanken und in zunehmendem Maß auch das Internet. Doch auch trotz modernster Möglichkeiten sind persönliche Gespräche mit Betroffenen, Fachleuten, Augenzeugen und Pressesprechern verschiedener Ämter und Behörden unerlässlich für eine fundierte und tiefgreifende Recherche.“
Damit nähern wir uns dem heutigen Konzert, konkret der Totenuhr der zweiten Fassung von Bruckners 8. Sinfonie. Bruckner beschrieb das Ende des Allegro moderato als Totenuhr: „Dös is so, wie wenn einer im Sterben liegt und gegenüber hängt die Uhr, die, während sein Leben zu Ende geht, immer gleichmäßig fortschlägt …“
Sterben und Hören, das ist so eine Sache. Mediziner wollen mit Hilfe von EEG-Messungen bewiesen haben, dass Sterbende bis zum Ende hören. Das Gehör wäre demnach der letzte Sinn, der stirbt. Der Klang der Stimme von Angehörigen könne also beruhigend auf den Sterbenden einwirken. Noch besser ist es, wenn Sie so begabt sind wie Isabelle Faust. Dann greifen Sie zur Violine und spielen Bach. Das wird beiden helfen, Angehörigen und Sterbendem.
Aber versteht der Sterbende, was wir ihm ins Ohr flüstern, oder wird das vielleicht nur als sinnfreier Lärm wahrgenommen? Das kann Ihnen kein Mediziner erklären, da wären findige Journalisten gefragt, die mit den Betroffenen sprechen. Allein, die sind alle tot.
Als gesichert gilt indes, dass die Sinne im Sterben besonders geschärft sind. Nach alledem müssen wir annehmen, dass eine tickende Totenuhr Sterbenden überlaut, vermutlich sogar störend vorkommt. Die Totenuhr-Coda ist für mich daher der Schlüssel zur Zweiten Fassung der 8. Sinfonie. Und gleichzeitig ein sehr gutes Beispiel, wie grundverschieden die Fassungen von Bruckners Sinfonien sind. Die erste Fassung von Bruckner 8 endet konträr im Fortissimo.
Das Finale steht und fällt für mich mit der Totenuhr. Geht die Totenuhr-Coda nicht unter die Haut, durchleben wir Jammer, Rührung, Schrecken und Schauder ohne die nötige Intensität. Bei solch einer Ausgangslage muss das Finale den Hörer nicht mit dem endlichen Leben versöhnen, es verfehlt damit seine Wirkung.
Diese Falle hat sich Tugan Sokhiev (russisch laut Wikipedia Туган Таймуразович Сохие = Tugan Taimurasowitsch Sochijew) mit der Wahl der Zweiten Fassung selbst gestellt, und er ist prompt hineingetappt. Die Totenuhr tickt bei den Münchner Philharmonikern unter Sokhievs Dirigat so, wie sie die Angehörigen des Sterbenden wahrnehmen mögen. Für sie steht der Sterbende im Vordergrund, die Uhr verkommt zum Grundrauschen. Komplett belanglos.
Auf den Sterbenden dürfte das Tick-Tack einer alten Uhr indes einstürzen wie Donnerschläge, die die beruhigende Wirkung der Worte der Angehörigen zerschmettern. So müsste die Coda klingen, aber Tugan Sokhiev ist eben kein Mediziner, sondern ein ziemlich guter Dirigent mit viel Gespür für Klangschönheiten.
Und bevor Sie jetzt sagen, ich hätte ja immer was zu meckern: Bernhard Neuhoff von BR-Klassik erging es vor wenigen Tagen in München ähnlich, wenn auch mit anderer Herleitung. Musikjournalisten können eben schreiben was sie wollen, den Künstler ficht das nicht an.
Das ist übrigens gut so, denn es ist keinesfalls gesichert, dass so eine Totenuhr Angst und Schrecken verbreitet. Vielleicht beruhigt der Umstand, dass die Uhr unverdrossen tickt, den Sterbenden. Wie sich auch die Welt weiter dreht und alles im Universum seinen Platz hat. So verstanden, hätte Tugan Sokhiev alles richtig gemacht. Denn Tragik und Triumph, Schmerz und Sehnsucht wären dann im Großen Saal der Elbphilharmonie ziemlich gut ausbalanciert gewesen.
Mich hat es aber nicht berührt.
Jörn Schmidt, 1. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Auf den Punkt 28: La clemenza di Tito klassik-begeistert.de, 23. Oktober 2024
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