Einige Verdi-Enthusiasten hatten sich wohl auch unter all jene gemischt, für die die Inaugurazione ein Event des Sehens und Gesehen-Werdens ist: Sie protestierten mit Zwischenrufen gegen die Schließung der Verdi Villa Sant’Agata. Der Ort, an dem der Komponist 50 Jahre gelebt hatte, steht wohl nun zum Verkauf, weil sich Verdis Erben darum zerstritten hatten und nicht einander ausbezahlen konnten. Noch im vergangenen Jahr hatte sich Riccardo Muti für den Erhalt des Museums mit Benefizkonzerten stark gemacht, offenbar aber leider vergebens.
Anna Netrebko/La forza del destino © Teatro alla Scala
Giuseppe Verdi, La forza del destino (Die Macht des Schicksals)
Musikalische Leitung: Riccardo Chailly
Regie: Leo Muscato
Szene: Federica Polarino
Teatro alla Scala, Milano, 7. Dezember 2024
Inaugurazione
von Kirsten Liese
Was wäre wohl die italienische Opernwelt ohne Anna Netrebko. Zwar reißen wie jüngst zur Stagione-Eröffnung in Mailand die politischen Proteste gegen die Russin nicht ab, die ihr eine zu große Nähe zu Wladimir Putin vorwerfen, aber wenn es um künstlerische Leistungen geht, können ihr doch die wenigsten das Wasser reichen. Das wurde nun zur „Inaugurazione“, einem der bedeutendsten Kulturereignisse Europas, nach Netrebkos Glanzauftritt als Abigaille im Berliner Staatsopern-Nabucco ohrenfällig.
Zwar sang sie im erstem Akt noch etwas intonationsunsicher, und einige Spitzentöne in dramatischen Momenten im Forte tönen mittlerweile leicht angestrengt. Aber ab dem zweiten Akt gelingt ihr eine Gestaltung, wie sie aktuell wohl singulär sein dürfte. Eigentlich, denkt man zunächst, ist die 53-Jährige im fortgeschrittenen Alter mit ihrem stark abgedunkelten Timbre schon zu einem Mezzo gereift, aber dann singt sie ihre flehentliche Bitte zur Jungfrau Maria betörend zärtlich, lyrisch und warm in den höchsten Registern, dass sie doch ihr angestammtes Stimmfach beglaubigt.
Und das berührte Publikum feiert sie dafür verdient mit mehreren Minuten Szenenbeifall. Nur eine Arie kann diesen grandiosen Vortrag noch toppen: das finale „Pace, pace, mio Dio“, in der Netrebko, als Büßerin im weißen Gewand, die schönsten Töne hervorbringt, die einem Sopran zu Gebote stehen, ganz in der Kopfstimme, mit leisen luziden Spitzentönen von kristalliner Schönheit. Das macht ihr aktuell keine zweite nach, auch nicht die stets etwas überschätzte jüngere Asmik Grigorian.
Dass sich in Netrebkos Bravostürme am Ende selbst nach einem derart bewegenden Aufruf zum Frieden in einer vom Krieg zerstörten Trümmerlandschaft lautstarke Buhrufe mischen, die sich freilich nur als politischer Unmut deuten lassen, ist eine Schande. Im Saal sollten nur künstlerische Leistungen beurteilt werden, der politische Protest muss vor der Tür bleiben, auch dann, wenn es stark regnet wie zu dieser Premiere, und nur wenige Passanten der Demonstration ihre Aufmerksamkeit schenken.
Jedenfalls war Netrebko wieder einmal das einsame Glanzlicht einer Produktion, die optisch allemal ansprechend wirkte, was an großen Häusern eher selten der Fall ist, aber leider daran krankte, dass Regie wie so oft mit der Gestaltung eines Bühnenbildes verwechselt wurde. Das aber ist die eigentliche Aufgabe von Regisseuren: Personenführung! Die Bilder sind zwar zweifellos ein wichtiger Teil der Inszenierung, aber in erster Linie doch Sache des Bühnenbildners.
Regisseur Leo Muscato jedenfalls hat mit den Sängern an der Rollengestaltung kaum gearbeitet, vielmehr ganz auf Federica Parolinis Drehbühne gesetzt, auf der sehr raffiniert und fast surreal die unterschiedlichen Außen- und Innenräume des Geschehens ineinander übergehen, so dass Liebestragödie und Kriegsszenen ein einheitliches Ganzes bilden.
„Die Macht des Schicksals“ hat keine einfache Rezeptionsgeschichte. Nach der Sankt Petersburger Uraufführung 1862 hat Verdi sieben Jahre später mit leicht umgearbeitetem Libretto eine zweite Fassung vorgelegt, die erstmals an der Scala gespielt wurde. Kritiker bemängelten aber dann noch die angebliche Zerrissenheit eines Werkes, in dem Liebesdrama und Kriegsszenen auf dem Schlachtfeld nebeneinander herliefen.
In Mailand zeigt sich dagegen, dass sich die aus familiären Feindseligkeiten zuspitzende Handlung um Leonora, ihren Liebsten Alvaro und ihrem blutdürstigen, auf Rache sinnenden Bruder Carlo im Kriegsgeschehen – Verdi spielte auf den österreichischen Erbfolgekrieg an – widerspiegelt. Kurz, das Kleine spiegelt sich im Großen, die private Tragödie im Weltgeschehen. Feindschaften, Flucht und Tod, wo das Auge nur hinblickt.
Und so sieht es auf der permanent rotierenden Drehbühne aus: Das Gemach, in dem sich der verhängnisvolle Schuss aus Alvaros Pistole löst, liegt bereits im Wald mit dem Kloster, in das Leonora kurze Zeit darauf flüchtet. Von da sind es nur wenige Meter an die Front, wo der Krieg im Kanonenrauch Fahrt aufnimmt, und zum Lazarett der Verwundeten. Ganz unmerklich begibt man sich dabei auf eine Zeitreise, werden aus den Figuren des 18. Jahrhunderts unmerklich heutige Soldaten. Und löst sich die Szenerie zusehends auf in eine reine Trümmerlandschaft.
Die fehlende Personenführung fordert indes ihren Tribut. Allen voran die männlichen Protagonisten bleiben in ihrer Rollengestaltung sehr skizzenhaft.
Ludovic Tézier macht als Leonoras unversöhnlicher, von Hass und Rache erfüllter Bruder Carlo immerhin stimmlich noch die beste Figur. Sein Bariton tönt groß und kultiviert, den finsteren Gedanken seines Texts trägt er gestalterisch immerhin Rechnung.
Brian Jagde als Kaufmann-Einspringer kann die nötige Durchschlagskraft durchaus aufbieten, singt den Alvaro weitgehend kultiviert, aber steif in den hohen Registern. Vor allem aber bewegt er sich steif durch die Szenenbilder, den glühenden Liebhaber nimmt man ihm nicht ab.
Dass Jonas Kaufmann „aus familiären Gründen“ abgesagt hatte, wird vermutlich nur eingefleischte Kaufmann-Fans geschmerzt haben. Mal singt er grandios, mal richtig schlecht, eine sichere Bank ist er jedenfalls nicht mehr. Aber wer von Netrebkos zahlreichen Tenorkollegen ist überhaupt noch übrig geblieben? Rolando Villazón, ihr einstiger Traumpartner, kam schon nach wenigen Jahren abhanden, um Piotr Beczała ist es mittlerweile stiller geworden, bei Jonas Kaufmann naht das Ende der Tenorkarriere.
Allmählich wird die Luft dünner am Himmel der Tenöre. Freddie De Tommaso ist aktuell sicherlich einer der wenigen, der mit Schmelz in der Höhe aufwarten kann, singt aktuell aber an der Wiener Staatsoper den Cavaradossi.
Das übrige Ensemble ist mäßig besetzt: Padre Guardiano, zu dem sich Leonora flüchtet, singt Alexander Vinogradov mit engem Vibrato, Vasilisa Berzhanskaya gibt mit einem kleinen, flachen Mezzo die Marketenderin Preziosilla. Allein Marco Filippo Romano singt profund die kleinere Partie des Fra Melitone und erntet dafür verdient großen Beifall.
Starke Auftritte hat bei alledem der viel beschäftigte Opernchor des Hauses, gut geführt von Riccardo Chailly. Der ist an diesem Abend am Pult wie so oft vor allem dann stark in seinem Element, wenn es um packende Dramatik geht. Um Pianoschattierungen und sublime Details seitens Verdis Vortragsbezeichnungen kümmert er sich weniger. Nur einmal lassen sich aus dem Graben leise Töne vernehmen, zum Vorspiel des dritten Akts, aber da hört man nur wenig, weil große Teile des Publikums zu spät aus der Pause zurückkehren und unruhig ihre Plätze einnehmen. Das nimmt Chailly einfach so hin, sieht sich nicht berufen, die gebotene Stille im Saal einzufordern.
Bei allen Vorteilen, die ein solcher Stoizismus in schwierigen Situationen sicherlich mit sich bringt: Von einem großen Künstler erwarte ich eine andere Haltung. Riccardo Muti, Christian Thielemann, Daniel Barenboim oder Teodor Currentzis hätten niemals in einer solchen Situation den Einsatz gegeben und weiterdirigiert.
Schon von Anfang an war das ein Abend in gedämpfter Stimmung. Die internationale Politprominenz, die in den vergangenen Jahren in der Königsloge Platz nahm, war wohl nach Paris zur Wiedereröffnung der Notre Dame gereist. Um die Senatorin Liliana Segre, eine italienische Holocaust-Überlebende, versammelten sich nur regional bekannte Gesichter.
Der Beifall vor der Nationalhymne blieb aus. Aber: Einige Verdi-Enthusiasten hatten sich wohl auch unter all jene gemischt, für die die Inaugurazione ein Event des Sehens und Gesehen-Werdens ist: Sie protestierten mit Zwischenrufen gegen die Schließung der Verdi Villa Sant’Agata. Der Ort, an dem der Komponist 50 Jahre gelebt hatte, steht wohl nun zum Verkauf, weil sich Verdis Erben darum zerstritten hatten und nicht einander ausbezahlen konnten. Noch im vergangenen Jahr hatte sich Riccardo Muti für den Erhalt des Museums mit Benefizkonzerten stark gemacht, offenbar aber leider vergebens.
Kirsten Liese, 10. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Das Rheingold Teatro alla Scala, 7. November 2024
Richard Strauss, Der Rosenkavalier Teatro alla Scala, Milano, 25. Oktober 2024
Gioachino Rossini, Guillaume Tell Teatro alla Scala, Milano, 10. April 2024