Franz Schmidt als Cellist nach einer Radierung von Anton Karlinsky
(Wien Museum)
von Dr. Rudi Frühwirth
Gustav Mahler hat ihn als “den musikalischsten Mann in Wien” bezeichnet: Franz Schmidt. Am 22. Dezember 2024 jährte sich sein Geburstag zum 150. Mal. Aus diesem Anlass veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Musik am 2. Dezember ein Symposion, bei dem Experten und Expertinnen über verschiedene Aspekte von Schmidts Leben und Werk referierten. Auch Schmidts einziger lebender Nachfahre war anwesend, der Schauspieler August Zirner.
Das Einleitungsreferat hielt der Musikwissenschfter und Musikkritiker Wilhelm Sinkovics, der auch über viele Jahre Präsident der mittelerweile leider aufgelösten Franz-Schmidt-Gesellschaft war. Laut Sinkovics vermochte Schmidt die klassischen Formen mit höchst subjektiven Aussagen zu füllen. Der Referent ging auch detailliert auf formale Fragen ein, speziell anhand Schmidts zweiter und vierter Symphonie, die ja in einem Satz die vier traditionellen symphonischen Sätze umspannt.
Manuel Gervink, emeritierter Professor an der Hochschule für Musik “Carl Maria von Weber” in Dresden, gab in seinem Referat einen Überblick über Schmidts symphonisches Schaffen mitsamt einer historischen Einordnung. Diese zeigt, dass Schmidt in seiner kritischen Distanz zu Schönbergs Ideen und Kompositionsprinzipien keineswegs in der Minderheit war – als Zeugnis nannte Gervink unter anderen die Zeitgenossen Bartók, Ravel, Prokofiew und Stravinsky.
Thomas Leibnitz warf in seinem Referat die Frage auf, ob Schmidts Opern “Notre Dame” und “Fredigundis” für das Opernrepertoire gerettet werden können. Seine Antwort war ein ernüchterndes “Wahrscheinlich nicht” – zu groß sind die Mängel des Textes von “Notre Dame” und erst recht im Fall der “Fredigundis”. Ferner sprach Leibnitz die Befürchtung aus, dass bei aktuellen Produktionen eine Entstellung durch die Regie wohl unausbleiblich wäre. Schmidt-Verehrern – zu denen ich mich zähle – sei zum Trost gesagt, dass nicht weniger als 30 Komponisten den Roman “Notre-Dame de Paris” von Victor Hugo als Vorlage zu Oper oder Ballett gewählt haben; unter all diesen Vertonungen ist die von Schmidt die relativ erfolgreichste.
Die Musikwissenschaftlerin Carmen Ottner, langjährige Generalsektretärin der Franz-Schmidt-Gesellschaft, berichtete über einen sensationellen Fund. Sie konnte handschriftliche Aufzeichnungen zu den Kammermusik- und Soloklavierabenden im Salon von Margarethe Wittgenstein-Stonborough einsehen. Margarethe Wittgenstein-Stonborough war die Schwester des Philosophen Ludwig Wittgenstein und des nach einer Kriegsverletzung einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein. Schmidt schrieb für ihn sechs Auftragswerke: das Klavierkonzert in Es-Dur, Konzertante Variationen über ein Thema von Beethoven, drei Klavierquintette und eine Solotoccata “für die linke Hand allein”.
In Margarethes Salon im Palais Schönborn-Batthyány waren illustre Künstler und Künstlerinnen zu Gast, darunter auch Franz Schmidt. In der Zeitspanne vom 4. Jänner 1921 bis 16. Jänner 1923 sind seine regelmäßigen Auftritte lückenlos nachzuweisen. Da die Aufzeichnungen noch nicht publiziert sind, kann ich hier nur sagen, dass Schmidt innerhalb von zwei Jahren mehr als 30 Soloklavierabende gab. Ich zitiere Carmen Ottner:
“Franz Schmidts unfehlbares musikalisches Gedächtnis zeigte sich bei unzähligen privaten Geselligkeiten: er spielte fast immer auswendig, auch Kompositionen, die er seit seiner frühen Jugend nicht mehr interpretiert hatte, fehlerlos.” Bezüglich der Programme seiner Soloabende und der Auftritte Schmidts mit anderen Künstlern muss ich auf die bevorstehende Publikation der Aufzeichnungen verweisen.
Der Organist Peter Planyavsky gab eine faszinierenden Überblick über musikalische Stilelemente vor und nach Schmidt, vor allem ihre Weitergabe und Modifikation in der “Ahnenreihe” Johannes Brahms – Robert Fuchs – Franz Schmidt – Johann Nepomuk David – Anton Heiller. Ich nenne hier nur einige wenige: Ultra-Chromatik, plötzliche diatonische Passagen, Dur/moll Wechsel (schon bei Schubert!), der hohe Ton, die Toccata, Umweg oder Ausweichung vor dem Schluss. Zahlreiche Musikbeispiele illustrierten die Aufzählung des Referenten.
Roman Summereder, ebenfalls Organist und auch Musikforscher, sprach über Schmidt und Schönberg als Komponisten für Orgel. Schmidt hatte ein ursprüngliches Naheverhältnis zur Orgel, während Schönberg nach eigenen Worten die genaue Kenntnis des Instruments fehlte. Während Schmidt ein umfangreiches Werk für Orgel hinterließ, gibt es von Schönberg außer dem Fragment einer Sonate für Orgel nur die “Variationen über ein Rezitativ”, sein opus 40, enstanden 1944 im amerikanische Exil. Der 1913 im Konzerthaus aufgestellten Riesenorgel, auf der Martin Haselböck das Werk unlängst spielte, stand Schmidt übrigens kritisch gegenüber. Seine “Privatorgel” mit Tonkanzellenlade und mechanischer Traktur ließ er nach seinen Vorstellungen in Pressburg anfertigen. Sie steht heute nach einer längeren Irrfahrt wieder bespielbar in der Kirche St. Ursula, nächst der Universität für Musik und darstellende Kunst in der Johannesgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk.
Das Abschlussreferat hielt Michael Gailit, Organist in Wien und wie seine Vorredner gründlicher Kenner der Orgelwerke von Franz Schmidt. Sein Thema war die Frage: wie ist Franz Schmidts politische Haltung einzuordnen? Anhand der der Oper “Fredigundis” lassen sich einige, durchaus widersprüchliche Erkenntnisse gewinnen. Die auch heute noch bekannten “Königsfanfaren” wurden in Wien kurioserweise sowohl bei einem Treffen des “Alldeutschen Verbands”, einer völkischen und antisemitischen Vereinigung, als auch kurz darauf bei einer Maifeier der Sozialdemokratischen Partei Österreichs gespielt. Die Fanfaren mit anschließenden Variationen für Orgel erklangen auch im Wiener Konzerthaus in einem von der Kunstelle der Sozialdemokratischen Partei veranstalteten Konzert. Solche Konzerte waren nur Parteigenossen zugänglich. Damit sollte klar sein, dass Schmidt weder links noch rechts eindeutig zu verorten ist.
Andererseits stehen wir vor der betrüblichen Tatsache, dass nach dem “Anschluss” Österreichs der bereits schwer leidende Komponist der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten keinen Widerstand entgegensetzte oder sie sogar bereitwillig unterstützte. Dieser aus heutiger Sicht unverzeihliche Fehler lastet seither, ausgesprochen oder unausgesprochen, schwer auf seiner Reputation als Mensch und Künstler.
Das abschließende Publikumsgespräch kreiste vor allem um die Frage, warum Franz Schmidts Werke so selten in den Programmen der großen Häuser zu hören ist. In Wien erklang im Jubiläumsjahr nur das “Buch mit sieben Siegeln”, eine großartige Aufführung mit dem Webern Symphonie Orchester unter Manfred Honeck. Die Wiener Philharmoniker hatten laut ihrem Konzertarchiv im Jahr 2024 kein einziges Werk ihres ehemaligen Mitglieds im Programm! Ob das Orchester seine Musik wirklich so geringschätzt oder ob hier außermusikalische Befürchtungen mitspielen, entzieht sich meiner Kenntnis.
Neben dem Stigma, das Schmidt durch die (unvollendete) Komposition der Kantate “Deutsche Auferstehung” wohl für lange Zeit, wenn nicht für immer anhaften wird, sind sicher auch musikhistorische und musiksoziologische Gründe für die Vernachlässigung seines Werks anzuführen. Sinkovics führte als Erklärung eine fragwürdige “Fortschrittsästhetik” an, die Schmidt als konservativ, wenn nicht als rückwärtsgewandt einordnet. Ich glaube zwar nicht, dass diese Einschätzung vom breiten Publikum geteilt wird, aber wenn sie der Zeitgeist ist, lassen sich wahrscheinlich viele Intendanten davon beeinflussen.
Es ist vollkommen richtig, dass Schmidt sich von der klassisch-romantischen Tonalität nie gelöst hat. Seine Chromatik stösst jedoch, wie Norbert Tschulik geschrieben hat, in Klangbereiche vor, die keineswegs zurück zur Tradition, sondern in die Zukunft weisen. Auch kann etwa des Thema des Buchs im Oratorium “Das Buch mit sieben Siegeln” als eine etwas erweiterte Zwölftonreihe aufgefasst werden, die freilich nicht mit der seriellen Technik weiterverarbeitet wird.
Schmidt war übrigens dem Schaffen Schönbergs durchaus aufgeschlossen – er hat bei der Uraufführung der “Verklärten Nacht” eine der beiden Cellostimmen gespielt und später mit einem Schulenensemble “Pierrot lunaire” einstudiert. Er war aber sicher kein Revolutionär. Der Komponist Alfred Uhl schreibt über seinen Lehrer: “Schmidts Musikalität war in sich begründet, sie bedurfte keiner avantgardistischen Geste, um sich in Gestalt zu vollenden.” Schmidts Orgelwerke, seine Kammermusik, seine Symphonien, die “Variationen über ein Husarenlied” und nicht zuletzt sein großes Oratorium geben davon unüberhörbar Zeugnis.
Dr. Rudi Frühwirth, 22. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Rudis Klassikwelt 5: Bläserquintette des 20. Jahrhunderts klassik-begeistert.de, 20. Juni 2024