© BR / Astrid Ackermann
Drei Werke von drei anwesenden Komponisten. Das habe ich live noch nicht erlebt. Klangdichte bei Lang, ziselierend scharfer Klang bei Chin, Klangexplosionen bei Manoury. Die Vielfalt der zeitgenössischen Orchestermusik wird vom Publikum gefeiert.
Dirigent David Robertson
Violine Leonidas Kavakos
Klangregie Zoro Babel
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Herkulessaal, München, 20. Dezember 2024
von Frank Heublein
Dieser Abend im Herkulessaal der Residenz in München wird als Geburtstagsaufführung des musikalischen Klangkörpers auf der Bühne annonciert. 75 Jahre ist das Orchester des Bayerischen Rundfunks 2024 alt geworden. Schon seit Anbeginn des Orchesters ist die zeitgenössische Musik ein relevanter Teil seiner Klangwelt. Programmatisch werden die Aufführungen Saison für Saison unter der Reihe musica viva vereint.
So viele Pausenzeichen erkenne ich gar nicht in Bernhard Langs GAME 18 Radio Loops. Es basiert auf historischen Pausenzeichen der BBC, des BR, der Deutschen Welle Köln, von Radio Kiew, Radio Peking, Radio Moskau und Radio Warschau. Die werden „in Ihre Atome dekonstruiert“, wie der Komponist im Programmheft erläutert. Doch die Dekonstruktion prägt sich in einer mich beeindruckenden Klangdichte aus. Klanggruppen, die plötzlich nicht nur von vorne, sondern auch aus den seitlichen Lautsprechern zu hören sind. Das lässt mich stutzen, die Klangbalance verändert sich. Fiebrig, ruhelos, doch manchmal nach Atem schöpfend empfinde ich diese Musik.
Keine Aufführung wird wie die andere sein. Warum? Lang bringt Elemente der musikalischen Selbstorganisation ein. Das sei vergleichbar mit einem Kartenspiel, so Lang im Programmheft. Die Anzahl der „Karten“, der musikalischen Materialien wird von Lang vorgegeben. Die möglichen Variationen diese auszuspielen sind unzählig. Es obliegt dem Orchester, Teile des Materials einzusetzen im Reagieren aufeinander. In der Schlusssequenz erkenne ich das alte Pausenzeichen des bayerischen Rundfunks. Immerhin. Und ich frage mich: schon vorbei? Eine dreiviertel Stunde Musik. Ich habe mich zeitvergessen hinein fallen lassen in die dichten Klangwelten, die das Orchester des Bayerischen Rundfunks in mir entfacht.
Die Koreanerin Unsuk Chin wollte ursprünglich nur jeweils ein Solokonzert für ein bestimmtes Instrument schreiben. Für Violinist Leonidas Kavakos, der auch an diesem Abend den Solopart ausführt, gab sie diesen Plan auf. Ihr zweites Violinkonzert entfacht in mir eine ziselierende Schärfe. Der Klang schneidet sich in meinem Inneren den Weg. Die Spannung zwischen Soloinstrument und Orchester ist unmittelbar greifbar. Geradezu magnetisch kann ich meine Aufmerksamkeit nicht einen Moment abwenden, das Orchester verwebt die Schnitte der Solovioline in meinem Inneren.
Philippe Manoury lässt Musiker wandeln, genauer die Holz- und Blechbläser. In der Komposition Anticipations lässt er mich die Bläser von hinter mir, neben mir und vor mir hören. Gerade im „hinter mir“ entstehen in mir Klangexplosionen. Dirigent Robertson wendet sich mir zu, natürlich nicht mir, sondern den Bläsern hinter mir. Eine Art gegenseitiges Reagieren: hin vor mir und her hinter mir. Klänge dringen aus unterschiedlichen Richtungen in mich ein. Ein ungewohnter Höreindruck, der mich aufmerksamer, genauer hören und in mich hineinhören lässt.
Am Ende der drei Stücke kommt zweimal der Komponist und einmal die Komponistin auf die Bühne. Mir fällt auf, dass ich so etwas noch nie erlebt habe. Drei Werke zu hören in Anwesenheit aller drei Werkgestalter. Die, so hoffe ich, sich haben inspirieren lassen von den Werken der anderen. Auf das sie neue Klangwelten komponieren, die noch nie ein Mensch zuvor gehört hat. Ich entwickele große Vorfreude auf diese Entdeckungen.
Frank Heublein, 21. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
PROGRAMM:
Bernhard Lang
»GAME 18 Radio Loops« für großes Orchester und Live-Elektronik nach Pausenzeichen aus den ARD Archiven
Kompositionsauftrag der musica viva / BR anlässlich 75 Jahre Bayerischer Rundfunk
Uraufführung
Unsuk Chin
»Scherben der Stille« Konzert für Violine und Orchester Nr. 2
Philippe Manoury
»Anticipations« für großes Orchester [2019]
Kompositionsauftrag der musica viva / BR, Casa da Música Porto, Radio France
Deutsche Erstaufführung