Krzysztof Urbański © Sabrina Ceballos
Krzysztof Urbański wird dieses Werk in den nächsten Wochen in München, Dresden und Wrocław dirigieren. Dieser letzte Satz ist keine Einladung, eher eine Bitte: Gehen Sie hin, lassen Sie es sich nicht entgehen.
Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893) / Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 (Urfassung)
Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010) / Symphonie Nr. 3 für Sopran und Orchester op. 36 («Symphonie der Klagelieder»)
Berner Symphonieorchester
Krzysztof Urbański / Dirigent
Kirill Gerstein / Klavier
Michał Sławecki, Edyta Krzemień, Anna Federowicz / Gesang
Casino Bern, 25. April 2025
von Julian Führer
Die Bühnen Bern haben ein spannendes und ambitioniertes Programm, sie haben einen kompletten Ring des Nibelungen auf die Bühne gestellt und getrauen sich auch Stücke wie Król Roger von Karol Szymanowski. Das Berner Symphonieorchester steht seit dieser Spielzeit unter der Leitung von Krzysztof Urbański, eine hörbar inspirierende Zusammenarbeit, die vom Publikum durch regen Zuspruch und volle Säle honoriert wird.
Das Konzert begann gewissermaßen klassisch, sogar sehr klassisch mit dem ersten Klavierkonzert Tschaikowskys, einem Stück des Kernrepertoires, das es sogar bis in Fernsehwerbespots geschafft hat. In Bern wurde jedoch die Urfassung gespielt, die gleich zu Beginn eine ganz andere Atmosphäre entstehen lässt: statt Akkordungetümen aufgefächerte Arpeggien. Gerade im ersten Satz nahm Tschaikowsky später etliche Überarbeitungen vor, so dass diese Fassung einen Blick in die Werkstatt des Komponisten erlaubt, dessen Stil dennoch unverkennbar ist. Dass es auch in der Urfassung eine mächtige „Pranke“ braucht, zeigte die Kadenz im ersten Satz.
Die Berner Orchesterbesetzung war mit nicht weniger als acht Kontrabässen riesig, doch blieb der Klang stets unter der Kontrolle des mit sparsamen Gesten begleitenden Krzysztof Urbański. Beeindruckend, wie dieser Klangkörper zusammengewachsen ist!
Der zweite Satz ist viel kantabler gehalten und erlaubt auch Orchesterstimmen solistische Passagen (Flöte, Cello, Oboe). Kirill Gerstein am Klavier erwies sich als versierter Techniker, der nicht nur Akkordkaskaden und irrwitzige Tempi beherrscht, sondern auch wie selbstverständlich Leichtes (arabeskenhafte Triller im Mittelsatz) und Zartes, was er mit der wahrhaft duftigen Zugabe „Flieder“ von Rachmaninow noch einmal unterstrich. Er zeigte sich als Tastenlöwe, wie Tschaikowsky ihn wohl im Sinn hatte, aber ohne große Gesten und nicht auf Showeffekt bedacht. Verdienter, großer Applaus, Blumen, ein dankbares Publikum.

Nach der Pause folgte die 3. Symphonie von Henryk Górecki – der Kontrast hätte nicht größer sein können. Krzysztof Urbański sprach kurz zum Publikum und rief in Erinnerung, dass diese „Symphonie der Klagelieder“ verschiedene Formen der Trauer um geliebte Menschen thematisiert. Es sei emotional sehr fordernd, so Urbański, diese Musik aufzuführen, und er bitte das Publikum um Konzentration, um Ruhe, um die Bereitschaft, sich auf die Musik einzulassen, sie zu „fühlen“ – und am Ende nicht zu applaudieren.
Auch wenn Urbański, der ohne Taktstock und auswendig dirigierte, ausdrücklich keine Analyse wollte: Die Streichergruppen sind jeweils geteilt, und beginnend mit den Kontrabässen wird eine kanonartige Struktur aufgebaut, die keinem eigentlichen Gipfel entgegengeht, aber nach einer recht starken Wandlung der musikalischen Atmosphäre der menschlichen Stimme Platz macht. Geschrieben ist das Werk von 1976 für Orchester und Sopranstimme, doch wechselten sich in Bern mehrere Stimmen ab: im ersten Satz der Countertenor Michał Sławecki, im Mittelsatz Anna Federowicz, am Schluss Edyta Krzemień.

Die Stimmen wurden elektronisch verstärkt und mit Nachhall versehen, was etwas gewöhnungsbedürftig war, aber eine fast kirchliche Andachtsstimmung noch unterstrich. Das fast eine Stunde dauernde Werk entfaltet seine Wirkung aus Kontrasten von extremer Düsternis zu fast himmlischem Licht, aus der stetigen fast trancehaften Wiederholung und aus den Texten. Der des zweiten Satzes wurde von der gefangenen Helena Wanda im September 1944 mit nur 18 Jahren in der Zelle des Gestapogefängnisses in die Wand geritzt: «Mamo, nie płacz, nie. » («Nein, Mutter, weine nicht.»). Sie konnte nicht damit rechnen, den nächsten Tag zu überleben. Als eine von wenigen gelang ihr die Flucht, sie überlebte.

Der letzte Satz verhallt harmonisch, erinnert etwas an den Schluss von Wagners Parsifal. Michał Sławecki und Anna Federowicz waren bereits nach Ende ihrer Partien sehr langsam vom Podium abgegangen, nach den Schlusstönen atmete der Saal kaum, und die sicher 1000 Anwesenden blieben stumm. Krzysztof Urbański und Edyta Krzemień verließen tastend das Podium, dann stand das Orchester auf, dann erst das Publikum.
Krzysztof Urbański wird dieses Werk in den nächsten Wochen in München, Dresden und Wrocław dirigieren. Dieser letzte Satz ist keine Einladung, eher eine Bitte: Gehen Sie hin, lassen Sie es sich nicht entgehen.
Julian Führer, 26. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at