Auf den Punkt 57: Järvi wie Karajan in der Perfektionismusfalle 2.0?

Auf den Punkt 57: Paavo Järvi /Janine Jansen  Elbphilharmonie, 11. Mai 2025

Paavo Järvi © Kaupo Kikkas

Paavo Järvi tourt gerade mit seiner Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Nach Rhein und Weser ging es gestern an die Elbe. Auch dort Beethovens Konzert für Violine und Orchester und Schuberts Sinfonie Nr. 4. Wie zuvor in Köln und Bremen geriet das Hamburger Konzert perfekt. Die Einschätzung der Dres. Cooper und Klingenberg mache ich mir zu eigen, wie Anwälte sagen würden.  Bitte lesen Sie deren Rezensionen hier bei klassik-begeistert. Warum aber kann ein perfekter Abend schnell zum Problem werden?

Ludwig van Beethoven / Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61
Franz Schubert / Sinfonie Nr. 4 c-Moll D 417 Tragische 

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen

Paavo Järvi / Dirigent
Janine Jansen / Violine

Elbphilharmonie, 11. Mai 2025

von Jörn Schmidt

Perfektionismus ist eine Tugend,  hat aber auch andere Facetten. Psychologen mit Schwerpunkt Work-Life-Balance meinen gar, ein Übermaß davon könne die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Sie nennen das Perfektionismusfalle.

Um das hier gleich mal klar zu stellen. Und um Andreas Schmidt, den Herausgeber von klassik-begeistert, vor rechtlichen Problemen zu bewahren:

Paavo Järvi sah gestern Abend putzmunter aus. Erfreute sich allerbester Gesundheit. Strahlte wie eh und je. Fast wie ein Sonnyboy. Aber Perfektionismus hat eine kleine Schwester. Und die heißt Langeweile. Ich habe mir erlaubt, das Perfektionismusfalle 2.0 zu nennen.

Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht, Voltaire (1694 – 1778) erkannte einst: „Das Geheimnis, langweilig zu sein, besteht darin, daß man alles sagt.“ Oder eben weiß, was einen alles erwartet.

Bei Järvi ist klar, einen erwartet stupende Partiturkenntnis. Hörbar gemacht in einem transparenten Orchesterklang. Außerdem verwöhnt Järvi mit Kontrasten. Von zart bis hart. Von Pianissimo bis fortissimo. Alles dabei und stets am richtigen Platz.

Dann das Verhältnis zu den Solisten, gestern Janine Jansen. Järvi kennt deren Stärken und Schwächen. Die perfekte Basis für einen liebevollen kammermusikalischen Dialog.

Janine Jansen © Marco Borggreve

Järvi ist desgleichen ein begnadeter Orchestererzieher. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen steht exemplarisch dafür. Dem Orchester gelingt eigentlich alles, und zwar auf höchstem Niveau. Hört man Järvi und die Bremer das erste Mal, so ist das ein Erlebnis. Eine Offenbarung.

Mittlerweile schleicht sich indes Routine ein in Järvis Perfektionismus. Beethoven und Schubert gelangen mit größter Präzision. Reibungslos. Perfekt. Wiedererkennbar, im typischen Järvi-Klanggewand. Dabei für mich ein Stück weit uninspiriert.

Wenn man so will ein Problem, das bereits Karajan schlechte Kritiken einbrachte. Wenn auch anders. Weil der Österreicher im Alter zusehends an einer Art Hochglanz-Breitwand-Sound feilte und sein Klangideal jedem Konzert überstülpte.

Järvi indes hat das beste Dirigentenalter noch vor sich. Ich bin mir sicher, er wird den typischen Järvi-Sound weiterentwickeln. Hin zu einem begnadeten Altersstil. Ich freue mich auf den Weg dahin mit vielen weiteren, nahezu perfekten Konzertabenden.

Jörn Schmidt, 12. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Janine Jansen Violine, Paavo Järvi  Dirigent Bremer Konzerthaus Die Glocke, 10. Mai 2025

Janine Jansen und Paavo Järvi Kölner Philharmonie, 7. Mai 2025

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