Desdemona lässt die Herzen höher schlagen

Otello, Giuseppe Verdi,  Hamburgische Staatsoper

Foto: A. Declair
Otello, Giuseppe Verdi
Hamburgische Staatsoper, 20. Januar 2017

Von Leon Battran

So wünscht man sich das, wenn man in die Oper geht: An der Dammtorstraße geht es an diesem Abend hoch her. Diese Otello-Inszenierung von Calixto Bieito ist buchstäblich ein Knaller. Da fliegen Korken durch die Luft, und ein ganzer Opernchor darf in Champagner duschen. Aber es gibt auch Hinrichtung und Vergewaltigung – Bieito ist nicht gerade zimperlich mit seiner Inszenierung. Dazu ein eigenwilliges Bühnen- und Kostümbild, aber vor allem furiose Musik und wirklich große Stimmen auf der Bühne, die diesen Abend an der Hamburgischen Staatsoper zu einem einzigartigen Erlebnis machen.

Bei allem Lob: Sänger und Orchester haben nicht durch die Bank vom ersten Ton an durchschlagend überzeugt. Das ist normal. Eine Vorstellung muss auch nicht von vorne bis hinten sagenhaft sein – falls es so etwas überhaupt gibt – um zu begeistern. Da mussten die Orchesterinstrumente erst einmal zueinanderfinden. Da gab es kleine Startschwierigkeiten bei der Titelpartie. Was soll’s – von solchen Spitzfindigkeiten lässt sich doch keiner die Suppe versalzen.

Shakespeare: Es geht um Neid, mehr noch, um Eifersucht. Otello kehrt als Kommandant der venezianischen Flotte siegreich von der Schlacht heim. Alle sind fröhlich, nur nicht sein Fähnrich Jago. Der ist neidisch, weil Otello ihm die verdiente Beförderung versagt hat. Durch Jago wirkt das pure Böse: Er möchte nunmehr nichts als Rache nehmen. Dazu macht er sich zunutze, dass Otello mit Desdemona vermählt ist. Denn dies neiden ihm alle männlichen Charaktere. Jago benutzt sie alle für seine Intrige, Desdemona und ihre Verehrer, und bringt Otello durch eine List dazu, zu glauben, dass Desdemona ihn betrügt. Er treibt den Verrat gar so weit, dass Otello zu einem eifersüchtigen Monster mutiert. Geblendet und sich selbst vergessend tötet Otello diejenige, die er liebt, und zuletzt, als er den Schwindel erkennt, sich selbst.

Der Glaube an Gerüchte, die mit der Wahrheit zu verschwimmen scheinen, „Fake-News“: das alles war vielleicht noch nie so aktuell wie in der heutigen Zeit. Darauf weist auch der leitende Dramaturg der Staatsoper, Johannes Blum, hin. Heute seien wohl keine Trump-Fans in der Oper, weil die alle mit USA-Fähnchen auf der heimischen Couch hockten, bemerkt Blum und sorgt so für etwas Gemurmel im Saal.

Das Orchester, sagt Blum, habe im Otello die Aufgabe, für das „atmosphärische Setting“ zu sorgen und erinnere dabei stellenweise an moderne Filmmusik. Und in der Tat: Zum Beispiel komponiert Verdi einen Orgelpunkt aus drei aufeinander folgenden Halbtönen, die gleichzeitig gespielt werden, und erzeugt so eine extreme klangliche Reibung. Dieser Missklang fällt jedoch als solcher nicht ins Gewicht, sondern wird zu purer Atmosphäre.

Für ein Empfinden von Aufregung und Bewegung hingegen sorgt der Chor der Staatsoper, der sich als Menschenansammlung auf der Bühne tummelt. Von Anfang an ist er sehr stark, im Unisono klanggewaltig und dramatisch, an den leisen Stellen wolkenweich, geradezu sublim. Das ist ein großer Hörgenuss, auch wenn man zu Anfang ab und zu den Eindruck gewinnt, dass Chor und Orchester ein bisschen gegeneinander anrennen. Das klangliche Gleichgewicht ist aber bald gefunden.

Sowohl Sänger als auch Instrumentalisten stellen sich im Verlauf des Spiels immer besser aufeinander ein. Nach der Pause gelingt es allen, noch eine Schippe draufzulegen und für eine grandiose zweite Hälfte zu sorgen. Da ist das Zusammenspiel konzentriert und fast immer auf den Punkt. Ein eingespieltes Team, das wunderbar funktioniert. Toll! Und selbst wenn ein großartiger Claudio Sgura als Jago dem Orchester mal ein bisschen davongaloppiert: man ist gern bereit, darüber hinwegzusehen.

Doch auch schon während des ersten Akts gibt es diese Momente, in denen die Musik ihre Zuhörer ganz in sich hineinsaugt und sie träumen macht. So auch bei dem Duett zwischen Marco Berti als Otello und seiner von Svetlana Aksenova gesungenen Desdemona. Aksenovas glasklare Sopranstimme schimmert hell wie die Diamanten, die an ihren Ohren funkeln. Daran schmiegt sich Bertis kraftvoll-warmer Tenor wie Honig – pure Harmonie zweier außergewöhnlicher Stimmen. Große Begeisterung!

Marco Berti bietet als Otello eine atemraubende Performance. Wie bereits in den vorherigen Aufführungen übernahm der italienische Tenor die Titelpartie anstelle des erkrankten Carlo Ventre. Berti besticht durch ein warmes und farbenreiches, aber in allen Registern stets angenehm anzuhörendes klares Timbre, das im Gedächtnis bleibt. Als Wüterich kann Berti wirklich zeigen, was er drauf hat und macht sich jeden Zentimeter der Bühne und des Zuschauerraums zu Eigen. Eine durchweg bravouröse Titelrolle.

In Topform war auch Claudio Sgura in der Rolle des Finsterlings Jago. Und das von Beginn an bis zum Schluss mit einer starken musikalischen und schauspielerischen Präsenz. Respekt! „Ich spüre den Urschlamm in mir“, singt der Bariton in seiner Auftrittsarie. Ganz und gar nicht schlammig, sondern porentief rein ist diese Vorstellung. Es macht großen Spaß, zu erleben, wie Sgura seiner Figur, die als eindimensionaler Fiesling konzipiert ist, mit stimmlich-musikalischer Wandelbarkeit und merklicher Spielfreude Zwischentöne und Tiefe verleiht. Da werden auch längere Rezitative zum Genuss. Kompliment!

Und dann war da noch Desdemonas Solo-Arie im letzten Akt. Ohne Frage das Highlight dieses Abends – und dieser Abend hatte viel zu bieten! Mehr noch als im wohlbekannten und einhellig gepriesenen „Ave Maria“ hat Svetlana Aksenova mit dem vorangestellten „Weiden-Lied“ die Zuhörer bis in die letzte Reihe in ihren Bann geschlagen und verzaubert. Mensch, war das toll! Eine Interpretation so unsagbar traurig und fragil, dass man gleichzeitig jubeln und weinen möchte.

Es ist überwältigend, welche Ausdruckskraft eine einfache Mollterz entfalten kann, wenn sie von Svetlana Aksenova gesungen wird. Hier ist die musikalische Spannung auf dem Siedepunkt. Auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Paolo Carignani ist imstande, Großartiges zu leisten, wenn es darauf ankommt. Hochkonzentriert, hochsensitiv tragen die Musiker die Spannung weiter, fangen die singende Figur auf und vollenden, was ungesagt bleibt.

Niemand verschwendet an diesem geschichtsträchtigen Tag noch einen Gedanken daran, dass zur Stunde irgendwo in Übersee so eine krakeelende Perücke zum US-Präsidenten vereidigt wird. Ob Mann oder Frau, jung oder alt: Svetlana Aksenova hat zweifellos jede Person im Saal verliebt gemacht: so groß ist das Mitgefühl für ihre Figur, ist die Faszination für diesen Auftritt.

Das war nicht einfach nur abgeliefert, das war reine Hingabe.

Es sind solche Darbietungen, die die Oper als Hort der schönen Künste adeln. All die Husterer und Räusperer, die nur auf einen ruhigen Moment gelauert haben, möchte man am liebsten geradewegs auf den Mond schießen. Wieso muss man sich räuspern, wenn doch nichts verlangt wird, als dass man einfach nur zuhört?

Dann sterben noch alle wichtigen Figuren, und vollkommen zu Recht braust ein langer begeisterter Beifallsstrom durch den Saal, zu dem sich laute Bravo-Rufe gesellen. Svetlana Aksenova schlägt derweil immer wieder die Hände über der Stirn zusammen, weil sie ihr Glück kaum fassen kann, und ist sichtlich gerührt von der lautschallenden Wertschätzung. Bei einer solchen Vorstellung lässt sich eben auch das Hamburger Publikum nicht lumpen. Pfui, wer da eher rausgeht, um nicht an der Garderobe warten zu müssen! Da oben singen Menschen um ihr Leben, nur für Sie. Da versteht es sich von selbst, dass man mindestens mal acht Minuten ordentlich in die Hände klatscht.

Leon Battran, 21. Januar 2017, für
klassik-begeistert.de

Ein Gedanke zu „Otello, Giuseppe Verdi,
Hamburgische Staatsoper“

  1. Wunderbar, es gibt sie doch noch, die einfühlsamen Kritiken! Die Aufführung steht im Mittelpunkt und nicht das überhebliche Geschreibsel des allwissentlichen Kritikers!
    Danke, Sie haben es genau getroffen!
    Maggy Wülfert

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