Currentzis überzeugt mit einer hochemotionalen Darbietung von Mahlers Vierter

Musikfest Bremen: Premiere UTOPIA  Bremer Konzerthaus Die Glocke, 20.August 2025

Foto: Utopia-Orchestra, Alexander Melnikov, Teodor Currentzis (c) Nikolai Wolff

Doch dann gibt es doch noch eine Zugabe, wie sie kaum angemessener hätte sein können: Mit feinfühliger Begleitung des Primgeigers und untermalt vom transparent gewobenem orchestralen Hintergrund intoniert Patoulidou mit herzbewegend expressivem Stimmhauch „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen“, ein hochemotionales, zugleich hoffnungsvolles Lied aus dem Œuvre von Richard Strauss, das manches Zuhörerauge rührungsfeucht schimmern lässt.

Erneut wird es still im Saal. Und noch einmal begeisterter Beifall für einen wahrhaft fesselnden Konzertabend, der die hohen Erwartungen des Bremer Publikums mehr als erfüllt hat.  

Musikfest Bremen: Premiere UTOPIA

Dmitri Schostakowitsch  Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 F-Dur op. 102

Gustav Mahler  Sinfonie Nr. 4 G-Dur

Alexander Melnikov  Klavier
Aphrodite Patoulidou  Sopran

Teodor Currentzis  Dirigent
Utopia Orchestra

Bremer Konzerthaus Die Glocke, 20.August 2025

von Dr. Gerd Klingeberg

Er gilt als exzentrisch, eine Art Enfant terrible unter den Dirigenten, mit eigenwilligen musikalischen Auslegungen. In der Bremer Glocke ist er kein Unbekannter; diesmal jedoch hat er erstmalig sein 2022 gegründetes Ensemble dabei, das gewiss nicht von ungefähr den Namen „Utopia“ trägt.
Welche möglicherweise schlagzeilenträchtige „Utopie“ durfte man erwarten? Wer insgeheim gar auf einen dirigentischen Eklat gehofft hatte, wurde enttäuscht. Was tatsächlich geboten wurde, war indes, kurz gesagt, grandios bis spektakulär. Aber der Reihe nach.

Zunächst steht das Klavierkonzert Nr. 2 auf dem Programm; 1957 hat Dmitri Schostakowitsch es als Geburtstagspräsent für seinen Sohn komponiert. Das groß besetzte Orchester und Pianist Alexander Melnikov legen einen forschen Start hin, spielen pointiert, im leicht anmutenden Volksliedton. Dann kommt urplötzlich aufgeregte Bewegung in den gesamten Klangkörper. Currentzis hüpft, gestikuliert wild, drängt das Orchester heftig vorwärts – um unvermutet in ein wiegendes Piano umzuschalten. Das wiederum nicht lange anhält, sondern einem noch stärkeren Trubel als zuvor weichen muss. Melnikov bleibt mit hammerhartem, sehr markantem Anschlag durchsetzungsstark präsent, ergeht sich in einer perfekt strukturierten, virtuosen Solopartie, dann geht es in fetzigem Drive weiter bis zum fulminanten Satzfinale.

Zwischen Entschleunigung und furiosem Prestissimo

Im größtmöglichen Kontrast dazu steht das sordinierte, ungemein ruhevolle Streicherspiel des 2. Satzes, aus dem ein gleichermaßen zarter Klavierpart herausleuchtet. Melancholisch bis tieftraurig ist die Atmosphäre, verträumt, pianissimo sinnierend; Currentzis hält das Ensemble mit fließenden Gesten konsequent in diesem stark entschleunigenden Modus. Die letzten Töne des anrührenden Mittelsatzes verhauchen, kaum noch hörbar, irgendwo im Nichts.

Das Erwachen kommt allmählich, nach zunächst noch zögerlichen, sehr vorsichtigen Klavieranschlägen. Aber schon bald geht es wieder mit tänzerischer Verve und ungezügeltem Enthusiasmus zur Sache, ungestüm voranstürmend bei mitunter irrwitzig gesteigertem stampfendem Pulsieren, mit einem daraus erwachsenden, furios bis zum Prestissimo forcierten Sturmlauf, bei dem sich der lockerhändig agierende Pianist mit schier endlosen rasanten Läufen und blitzenden Figurationen gekonnt einbringt. Rumms, aus!

Seinen mitreißenden Auftritt beendet Melnikov mit einer so ganz anders gearteten, nur kurzen Zugabe: den spieluhr-zart glitzernden „Visions fugitives“ op.22/17 von Sergej Prokofjew.

Mahlers 4te als großformatiges Klangpanorama

Gustav Mahler fordert für seine Sinfonie Nr. 4 nahezu durchgängig langsame Tempi: „bedächtig“, „recht gemächlich“, „ohne Hast“.

Für Currentzis gewiss ein guter Vorschlag, den er aber nur bedingt übernimmt. Ballettös leicht lässt er den Kopfsatz angehen; sein Dirigat beschränkt sich dazu auf eine unaufgeregte Körpersprache, wird zeitweise gar zu einer eleganten Tanzperformance, die das Orchester zu gleichermaßen geschmeidigem Spiel animiert. Kurze, mehr oder weniger heftige bis chaotisch aufwühlende Ausbrüche sorgen für Spannung, mit idyllischen Naturlauten verfeinerte Wohlfühlklänge halten dagegen.

Utopia Orchestra, Teodor Currentzis (c) Nikolai Wolff

Aus der Vielzahl motivischer Einzelheiten der ersten beiden Sätze setzt Currentzis ein sehr großformatiges, aquarellös luzides bis plakafarbig grelles Panorama zusammen, das den Hörer im steten Fluss des komplexen musikalischen Geschehens teils albtraumhaft verwirrt und erschreckt, kurz darauf aber auch wieder besänftigt und beruhigt. Diese auf ausgeprägte Bildhaftigkeit ausgelegte Interpretation setzt sich fort im 3.Satz „Ruhevoll“; der überaus pianissimo angegangene Eingangspart wirkt wie eine schlichte Traummelodie, ein heimeliges Schlummerlied, das vom dezent pulsierenden Zupfen der Kontrabässe begleitet wird.

Weitestgehend ohne jedwede störende Ansätze beginnt eine allmähliche dynamische Steigerung, die indes abrupt zum Chaos auszuwachsen scheint. Im Wechsel des Geschehens kommt Aphrodite Patoulidou von der Seite her mit bedächtigen Schritten wie eine Engelsgestalt auf die Bühne, blickt sich ruhig staunend um, lauscht den geradezu mystischen Klängen des Orchesters, das zäsurlos zum letzten Satz der Sinfonie übergeht. Wie aus einer anderen Sphäre herüberklingend, besingt die Sopranistin mit expressiver, klarer Intonation den Genuss himmlischer Freuden samt schlaraffenland-ähnlicher Zustände.

Utopia Orchestra, Aphrodite Patoulidou, Teodor Currentzis (c) Nikolai Wolff

Loreley-Lieblichkeit und Sehnsuchtstraum

Der Text dieses „Wunderhorn“-Liedes hat hintergründig bis offen einen durchaus ironischen Charakter. Patoulidous loreley-lieblicher, stark emotional gefärbter Gesang ist betörend wie der Duft zarter Frühlingsblüten, lässt aber die Doppeldeutigkeit des Textes mit subtiler Akzentuierung dennoch keineswegs außer Acht. Sehr verhalten gestaltet die Sopranistin ihren Part, gibt jedem Ton seine eigene Nuance; ihre engelsgleiche Stimme erzählt von fantastischen Dingen, von „englischen Stimmen, die die Sinne ermuntern, dass alles für Freuden erwacht“, wie es am Schluss heißt. Doch das bleibt letztlich nur ein schöner Sehnsuchtstraum: Stimme und Musik verlieren sich, nahezu tonlos dahinschwebend, in einer unaussprechlichen Unendlichkeit.

Lange herrscht regungslose Stille im Saal; dann bricht frenetischer Beifall los: Currentzis‘ ausgefeilte, vom Utopia-Orchester und den Solisten perfekt umgesetzte Dramaturgie ist angekommen. Etliche Male verbeugen sich die Akteure verabschiedend zum Publikum hin. Doch dann gibt es doch noch eine Zugabe, wie sie kaum angemessener hätte sein können: Mit feinfühliger Begleitung des Primgeigers und untermalt vom transparent gewobenem orchestralen Hintergrund intoniert Patoulidou mit herzbewegend expressivem Stimmhauch „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen“, ein hochemotionales, zugleich hoffnungsvolles Lied aus dem Œuvre von Richard Strauss, das manches Zuhörerauge rührungsfeucht schimmern lässt.

Erneut wird es still im Saal. Und noch einmal begeisterter Beifall für einen wahrhaft fesselnden Konzertabend, der die hohen Erwartungen des Bremer Publikums mehr als erfüllt hat.

Dr. Gerd Klingeberg, 21. August 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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