Lloyd Riggins, künstlerischer Ballettdirektor des Hamburg Balletts © Kiran West
von Dr. Ralf Wegner
Wie man bei Gisela Sonnenburg vom Ballett Journal lesen konnte, schien bei der höheren Leitung des Hamburger Balletts nicht die Neigung zu bestehen, unsere herausragenden Ersten Solisten zurückzuholen, die angesichts der Führungskrise unter Demis Volpi ihre Kündigung eingereicht hatten: Alexandr Trusch, der wegen seiner Nijinsky-Interpretation eigentlich unersetzbar ist, hat einen Gastvertrag beim Dortmunder Ballett, Christopher Evans wird seine Kunst im Karlsruhe zeigen und Madoka Sugai tanzt fürderhin im US-amerikanischen Boston als Erste Solistin. Von dem begnadeten Alessandro Frola wird das Wiener Ballett profitieren.
Es ist aber auch Erfreuliches zu berichten, der aktuelle künstlerische Ballettdirektor Lloyd Riggins stellt eine Kombination aus einem der ältesten erhaltenen Ballette La Sylphide in der Choreographie von Auguste Bournonville auf die Bühne und kombiniert dieses Stück mit der Uraufführung einer Choreographie des Hamburger Ersten Solisten Aleix Martínez. Das ganze wird unter dem Rubrum Romantic Evolution/s subsumiert und ab dem 7. Dezember 2025 aufgeführt.
Bournonvilles Choreographien sind in Kopenhagen verwurzelt, und von dort holt Riggins den ehemaligen Direktor des Königlichen Balletts Frank Andersen, der, wie die Hamburgische Staatsoper mitteilte, einer der weltweit führenden Bournonville-Spezialisten ist. Andersen wird die dänische Fassung dieses Balletts aus dem Jahre 1836 über einen schottischen Edelmann, der einen weiblichen Luftgeist (La Sylphide) seiner lebensechten Braut vorzieht, zum Leben erwecken.

La Sylphide premierte in Hamburg zuletzt unter der Intendanz von John Neumeier im Jahre 2008 in einer Version nach Filippo Taglioni. Die beiden Hauptpartien wurden damals von Hélène Bouchet und Tiago Bordin sowie von Silvia Azzoni und Alexandre Riabko phänomenal getanzt. Auch Bournonville ist in Hamburg nicht ganz unbekannt. Ab Dezember 2014 wurde sein Ballett Napoli aufgeführt, ergänzt um einen Mittelakt in der Choreographie des jetzigen künstlerischen Ballettdirektors Lloyd Riggins. Auch in diesem Ballett zeigten Silvia Azzoni und Alexandre Riabko ihr außerordentliches tänzerisches Können.

Und Alexandre Riabko wird auch bei der am 21. September 2025, also bereits in 10 Tagen, erfolgenden Wiederaufnahme von John Neumeiers absolut sehenswerter Choreographie auf Anton Tschechows Familiendrama Die Möwe auftreten. Und zwar als Pjotr Nikolajewitsch Sorin, der bei der Uraufführung von Lloyd Riggins verkörpert worden war. Im April 2018 sah ich dieses Ballett zuletzt und schrieb zum Inhalt (in Klammern die Erst- und Zweitbesetzungen der jetzigen Aufführungsserie):
„Wie schön fängt dieses Ballett nach Anton Tschechow schon an, wenn sich Konstantin in seine Liebe zu Nina hineinsteigert. Für mich ist Die Möwe eines der für Neumeiers Stil charakteristischen und besonders überzeugenden Werke. Mit jedem Sehen gewinnt die Choreografie mehr. Nicht die technische Perfektion steht im Vordergrund (die aber auch gefordert wird), sondern die tänzerische Charakterisierung, geradezu die Ausmalung der Seelenzustände von zehn auf einem russischen Landgut versammelten Personen:
Konstantin (Louis Musin, Caspar Sasse), der sich in moderner Choreografie versucht und sich am Leben verliert, seine Freundin Nina (Ana Torrequebrada, Francesca Harvey), die ihn für den älteren, smarten Tänzer Trigorin (Matias Oberlin, Daniele Bonelli) verlässt und, von ihm enttäuscht, seelisch gereift, in die weite Welt geht, Kostjas Mutter Irina (Anna Laudere, Ida Praetorius), eine klassische Tänzerin, die ihren Sohn liebt, aber für seine Kunst wenig Verständnis aufbringt, dafür umso mehr für ihren Geliebten Trigorin, Irinas Bruder Sorin (Alexandre Riabko, Louis Haslach), der seinem Neffen Kostja beisteht, Mascha (Xue Lin, Charlotte Larzelere), deren Liebe zu Kostja nicht erwidert wird und schließlich, vom Leben enttäuscht, den sie verehrenden Lehrer Medwedenko (Lennard Giesenberg, Javier Monreal) heiratet und Maschas Mutter Polina (Hayley Page, Ida-Sophie Stempelmann), die unter Duldung ihres Ehemannes, des Gutsverwalters Schamrajew (Florian Pohl, Pepijn Gelderman), eine Affäre mit dem Arzt Dorn (Joaquin Angelucci, Florian Pohl) hat.

Dieses überaus sehenswerte, 2002 in Hamburg uraufgeführte Ballett wird am 21. September, 22. September sowie am 16. Oktober 2025 mit der ersten und am 25. September, 28. September sowie am 25. Oktober 2025 mit der zweiten Besetzung zur Aufführung gelangen. Es gibt noch Karten. Man sollte sich beide Besetzungen ansehen. Es wird nicht eine bessere und eine weniger gute Aufführung geben. Denn unterschiedliche Rolleninterpretationen werden die Tiefenspannung dieses wunderbaren Balletts verstärken.
Dr. Ralf Wegner, 12. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
50. Nijinsky-Gala, Teil II Hamburgische Staatsoper, 20. Juli 2025
50. Nijinsky-Gala, Teil I Hamburgische Staatsoper, 20. Juli 2025
Nijinsky, Ballett von John Neumeier Hamburgische Staatsoper, 11. Juni 2025