Staatsoper Hamburg, 20. September 2018
Hamburg Ballett, Chopin Dances
Zwei Ballette von Jerome Robbins
Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska
Warum zwei? Und warum in der verkehrten Reihenfolge? Erst “Dances at a Gathering” von 1969 und nach der Pause “The Concert” von 1953? Nun, die Länge der einzelnen Ballette reicht nicht für einen ganzen Abend, wie man ihn hier kennt. Auf dem Broadway wahrscheinlich schon, dort laufen im Vorprogramm Sketche und Gesangseinlagen von wenig bekannten Künstlern. Aber wir sind zu Gast in der Staatsoper der Freien und Hansestadt Hamburg – im Hamburg Ballett von John Neumeier.
“Dances at a Gathering” kommt sehr puristisch daher. Das Bühnenbild: beschämend einfach. Könnte alles sein: Werbung für Waschmittel, Fluglinien (besonders Billigflieger), sogar mit Verlaub für Damenbinden; zu meinem Erstaunen sah ich das gleiche Bild (oder soll ich „Folie“ sagen?) als Hintergrund der Pressekonferenz des Bundeskanzleramtes einen Tag später. Motiv: zwei zarte Wolken auf einem makellos blauen Himmel.
Der Flügel steht nicht aufgeklappt im Orchestergraben. Zwei Spots auf den Pianisten.
Fünf Tänzerinnen und Tänzer in einfachen Kostümen in fünf gebrochenen Farben tanzen zur Chopins Mazurkas, Walzer und einer Etude. Falsch! Chopins Musik begleitet – oder auch nicht – die Reigen der Tänzer eine Stunde lang. Die Tänzer geben alles, der Pianist, Michal Bialk bremst sich sichtlich und hörbar. Er ist eine Stunde lang ein Akkompaniateur. Bei dem Impetus der Tanzschritte hört man das Klappern der Ballettschuhe. Ich bin empört.
Wie im Programm gleich am Anfang erwähnt: der Titel “Chopin Dances” weckt Erwartungen.
Wie wahr! Ist Chopin drauf, erwartet man Chopin drinnen und zwar auf Konzertniveau – und auf auf keinen Fall als Begleitmusik. Es gab früher Experimente, bei denen man zu Chopin tanzte (Isadora Duncan, Barbara Bittnerowna), aber das Credo war immer, der Musik von Frederic Chopin gerecht werden. Den Chopin tanzen, nicht zu Chopin tanzen.
Chopin (1810 – 1849) ist in Polen bis heute ein Nationalheiligtum. Er verließ seine Heimat 20-jährig, starb im politischen Exil von Heimweh und Schwindsucht geplagt mit 39. Sein musikalisches Werk, darunter über 200 Salonstücke und zwei Klavierkonzerte, ist für Polen zum Symbol des Widerstandes gegen die russische, preußische und österreichische Teilung Polens geworden. “Etiuda rewolucyjna” (Revolutionsetüde) war während des II. Weltkrieges in Nazi-Deutschland und im „Generalgouvernement“-Polen verboten.. Sie wurde als “Artillerie in Blumen versteckt” beschrieben. Musik kann gefährlich sein.
So sehr mit polnischer, nationaler/patriotischer Ideologie behaftete Musik an so kurze Leine zu nehmen und zu einem Akkompagnement für ein eigenes Werk zu degradieren, war wohl für Jerome Robbins ein bewusstes Sakrileg, eine Provokation und eine Notwendigkeit. Als Sohn chassidischer Einwanderer aus Polen musste er wahrscheinlich Chopin aufs Korn nehmen. Für mich war dieses Ballett schwer zu ertragen. Vor allem, weil die Rechnung Robbins’ nicht aufging. Die auf kleiner Flamme kochende Musik Chopins hat nicht zur Größe von “Dances at a Gathering” beigetragen. Im Gegenteil: Ich empfand die Darbietung als langweilig, monoton und schlichtweg ermüdend. Nur für einen Moment sah und fühlte ich die aufkommende Einheit von Bild und Ton: bei Karen Azatyans Solo. Einen Wimpernschlag lang.
Die Technik und Ausdruck der Tänzer waren ohne Tadel. Wahrscheinlich waren sie ganz in ihrem Element, aber der Funke sprang nicht über. Das Publikum applaudierte pflichtbewusst. Nicht mehr und nicht weniger. Ich hätte schon nach Hause gehen wollen, wäre ich nicht in Begleitung gewesen, die schlicht entzückt war.
Was für ein Glück, dass ich geblieben war! “The Concert”, das zweite Ballett, entschädigte für alles. 1958 in New York uraufgeführt, ist dieses Ballett eine Burlesque, eine Farce, ein Witz auf sehr vielen Beinen. Die Tänzer wirken in ihren hellblauen Trikots kompakter als in den schönen Kostümen, die ihre Körper betonen, aber gleichzeitig auch bedecken. Die hellblauen Leiber sind sehr gut sichtbar, wirken allerdings nicht ganz menschlich. Blaue Männchen und Weibchen zwischen Comicfiguren und belebten Plastilin-Puppen im samtigen Schwarz der Bühne (Bühnenbild: Saul Steinberg).
Der Bialk gibt den großen Künstler mit langer Mähne und Frack; er fummelt lange am Klavierhocker herum und entstaubt die Klaviatur. Dann legt er los; man spürt, dass er jetzt endlich, endlich Chopin spielen kann und darf; er hat keinen Maulkorb und keine Leine mehr. Das ihn streckenweise begleitende Orchester fügt sich gut in das Gesamtbild ein. Die Orchestrierung lässt zwar vergessen, dass es Chopin-Musik ist, aber es fällt nicht auf, es stört nicht.
Die leichte, liebevoll erzählte Geschichte der Missgeschicke während eines Open-Air-Konzertes in einem Kurort zieht uns alle sofort in ihren Bann. Verschiedene Menschentypen werden zwar überzeichnet, aber dies tut dem Wahrheitsgehalt der Beobachtung keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ist köstlich, die schauspielerische Leistung der Tänzer zu beobachten. Musikalisch und choreographisch greift alles ungemein präzise ineinander. Das Publikum, ermuntert durch manchen Kalauer auf der Bühne, lacht erst zaghaft, dann lauthals: man lacht und liebt diese Tänzer, diese Aufführung. Der Abend ist gerettet!
Chopin selbst litt zwar Zeit seines Lebens an mehr oder minder schweren Krankheiten, er war ein zarter, dünnhäutiger, empfindlicher Mensch, aber er konnte musikalisch und menschlich ungemein witzig und leichtfüssig sein. Seine musischen Improvisationen zu sogenannten Respektspersonen sind legendär. Seine Begabung für die Parodie der Mäzene ebenso. Ihm hätte “The concert” sicher gut gefallen. Lachen war für ihn kaum möglich. Aufgrund der Hustenanfälle, der Schwindsucht, dieses Aids des XIX. Jahrhunderts, drohte er oft zu ersticken. Aber er hätte sicher geschmunzelt.
Erst in “The Concert” entfaltet sich das ganze Können von Jerome Robbins, den späteren Choreographen von “Fiedler on the Roof” und “Anatevka”. Der Tanz auf dem Seil über den Köpfen des staunenden Publikums ist nicht leicht. Ein Tanz auf einem lose hängenden Seil, ein paar Zentimeter über dem Boden, so als ob man nicht tanzen könnte, ist tausend Mal schwieriger. In dieser Satire eines ernsten Konzerts zeigte die Balletttruppe Hamburg Ballett eine Leistung auf höchstem Niveau. Nie hab ich so viele so gerade ausgestreckte Beine mit geflexten Füßen über die Bühne getragen gesehen. Nie soviel gelacht beim Zuschauen, als ein Stuhl einer Balletttänzerin untem Hintern weggezogen wird und sie weiter sitzen bleibt, nur auf den Pointen gestützt. Mörderisch für die Oberschenkel. Große körperliche Leistung. Chapeau!
Das Publikum dankte mit langem, herzlichem Applaus und mehreren Bravo-Rufen. Auch ein paar positive Pfiffe hallten durch den Saal. Das waren die Tänzer-Kollegen. Sie und die Darsteller alleine könnten eine wirklich fachliche Bestandsaufnahme des Abends geben.
Teresa Grodzinska, 22. September 2018, für
klassik-begeistert.de