Wiener Konzerthaus: Teodor Currentzis offenbart das Göttliche in der Liebe und in der Kunst

Teodor Currentzis, Gerhild Romberger, SWR Symphonieorchester,  Wiener Konzerthaus, Großer Saal

Foto: Astrid Ackermann (c)
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 
25. September 2018
SWR Symphonieorchester
Teodor Currentzis, 
Dirigent
Gerhild Romberger, Alt
Damen der Wiener Singakademie
Wiener Sängerknaben

von Jürgen Pathy

Seit Wochen sind die Karten vergriffen, denn die Spatzen pfeifen es von allen Dächern: Der „Klassikrebell“ weilt in der Stadt – Teodor Currentzis, 46, und das SWR Symphonieorchester beehren den prächtigen Jugendstilbau des Wiener Konzerthauses. Auf ihrer ersten gemeinsamen Tour schleppen die Musiker und ihr neuer Chefdirigent ein ganzes Universum durch Europa: Gustav Mahlers 3. Symphonie.

Der intensiven Arbeit an diesem monumentalen Werk attestiert Teodor Currentzis das Prädikat „ungesund“, so ein Werk könne er maximal alle sechs Jahre verwirklichen. Doch zum Einstand möchte er seinen „neuen Freunden“ aus Stuttgart ein besonderes Geschenk bereiten, verrät der Dirigent, der aus der russischen Stadt Perm auszog, um die Musikwelt zu erobern – und sie liegt ihm zu Füßen! 2017 debütierte und reüssierte er sogar bei den Salzburger Festspielen.

Der Schöpfungsgeschichte Gustav Mahlers, der in dieser Symphonie das Universum von den Naturgewalten bis hin zu Gott abschreitet, verleiht Teodor Currentzis teilweise bisher unbekannte Aspekte: die „Blumen auf der Wiese“ und die „Tiere im Walde“ aus dem idyllischen Örtchen Steinbach am Attersee, die Gustav Mahler im zweiten und dritten Satz zu Wort kommen lässt, durchmischt der „Dirigent des Jahres 2016″ (Opernwelt) mit mysteriösen Wesen aus dem Ural und der Akropolis. Die Szenerie wirkt befremdlich, beinahe beängstigend. Der groteske Humor der beiden tänzelnden Sätze bleibt tief versteckt in den Weiten der russischen Steppe, auch wenn Currentzis am Pult seinen Körper geschmeidig dreht und wendet.

Doch bekannterweise lacht der am besten, der zuletzt lacht. Gewinnt das Spiel derjenige, der die Big Points kassiert – bei Mahlers Dritter sind das der monströse Kopfsatz und der spirituelle Schlusssatz.

Bereits im Kopfsatz erscheint jedoch ein mahnendes Damoklesschwert, das zum Nachdenken ermutigt– denn kurz nach dem Urknall lässt Gustav Mahler den verehrten Richard Wagner und dessen „Götterdämmerung“ in die Schöpfungsgeschichte einfließen. Eine passendere Metapher könnte man sich an diesem Abend kaum vorstellen, wenn man den Worten der Gäste des Wiener Konzerthauses aufmerksam lauscht. An allen Ecken sprechen sie ehrfürchtig von Teodor Currentzis, himmeln den charismatischen Exzentriker an, erheben den künstlerischen Leiter des Staatlichen Opern– und Ballett-Theaters Perm beinahe in den Stand der olympischen Götter.

Nein – Zeus ist er keiner, sonst hätte der gebürtige Grieche bereits nach der kurzen Zusammenarbeit mit dem SWR Symphonieorchester dessen Schwächen bei den Trompeten, Hörnern und der teilweise fehlenden Homogenität des Klangkörpers mit einem Wink hinweggefegt. Großes Lob gebührt dem Herrn an der Solo-Posaune, der dem Blech cremig-weiche Klänge zu entlocken vermag. Aber jeder, der auf etwas Lebenserfahrung und Menschenkenntnis zurückgreifen kann, erkennt die menschlichen Stärken des charismatischen Ausnahmekünstlers:  Teodor Currentzis ist authentisch und ehrlich – er ist kein Prometheus aus der Unterwelt, kein narzisstischer Blender, wie er von einigen Kritikern gesehen wird. Currentzis ist ein akribischer Arbeiter mit einer glasklaren Vision.

Diese Visionen bündeln sich an diesem Abend in der pathetischen Weihe des Schlusssatzes zu einem herzergreifenden Ereignis. In diesem innigen Adagio vereint der feinfühlige Philosoph Currentzis seine Stärken, offenbart das Weiße zwischen den Notenzeilen, lässt mit wohlüberlegten Tempi-Wechseln der Musik den schmerzenden Freiraum, um sich um jede Zelle des erstarrten Körpers zu wickeln – rundherum drückt es den Gästen die Tränen in die Augen.

Selbst überzeugten Atheisten widerfährt in diesen erschütternden Momenten die Unendlichkeit des Universums und das Göttliche – nicht in Currentzis, sondern in der Liebe und der Kunst!

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), am 26. September 2018,
für klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de

 

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