Into Iceland: Salonen lässt es rappeln im Karton

Charles Ives,
The unanswered question / Two contemplations Nr. 1
Anna Thorvaldsdottir, Aeriality
Haukur Tómasson, Klavierkonzert Nr. 2
Igor Strawinsky
L’oiseau de feu (Der Feuervogel) / Ballett in zwei Bildern mit Introduktion
Esa-Pekka Salonen, NDR Elbphilharmonie Orchester
Elbphilharmonie, 11. Januar 2017

Von Leon Battran

Island: weitläufige Landschaften, Vulkangestein und heiße Geysire. Wenn nicht gerade der Vulkan Eyjafjallajökull ausbricht, findet man dort eine tiefe Ruhe – aber auch eine hochspannende und inspirierte Musikkultur, die auch in Hamburg von sich reden macht.

Drei Tage lang hatten die Besucher der Elbphilharmonie die Gelegenheit, authentische moderne Musik von der Insel ganz im Norden Europas zu erleben. Ein Höhepunkt der Reihe war das Konzert am Abschlussabend mit dem meisterhaften Dirigenten Esa-Pekka Salonen und dem NDR Elbphilharmonie Orchester.

An diesem großen Abend gab es vieles zu beklatschen für das Publikum in der Elbphilharmonie. Und das war enorm gut aufgelegt und immer klatschbereit. Den ersten Applaus konnte sich schon kurz vor Beginn ein Gehstock sichern, der sich selbständig machte und klappernd die Treppe hinunterfegte.

Das ist schon eine schnieke Akustik im Großen Saal, dass sogar ein Gehstock auf munterer Abwärtsfahrt für Begeisterung sorgt, hat sich vielleicht auch Yasuhisa Toyota gedacht. Der Akustik-Architekt der Elbphilharmonie ließ es sich nicht nehmen, diesem besonderen Konzert beizuwohnen, das auch ein klangliches Experiment und eine erneute akustische Bewährungsprobe für den Großen Saal darstellte.

Der zweite Applaus galt nicht allein Esa-Pekka Salonen. Womöglich wunderte der finnische Ausnahmekünstler sich aber ein wenig darüber, dass über 2000 Menschen nun schon zum zweiten Mal vor Konzertbeginn ausgelassen in die Hände klatschten. Der erneute Beifall galt zwei eiligen Zu-Spät-Kommern, die noch rasch zu ihren Plätzen huschen wollten; er verwandelte sich dann aber schnell in brausende Freude und Respekt für Salonen, der gerade auf die Bühne kam. Der Finne war so freundlich und wartete geduldig, bis alle Besucher ihre Plätze eingenommen hatten.

Trotzdem recht viel Ablenkung. Die war dann vielleicht auch der Grund dafür, dass der Anfang des Warm-Up-Stücks, Charles Ives‘ Unanswered Question, nicht hundertprozentig gelingen wollte. Kleine Ausrutscher in der Intonation brachten das ein oder andere Nackenhaar dazu, sich aufstellen – sind aber angesichts der extrem hohen Lage der Streicher verzeihlich und auch schnell vergessen, wenn einen das pure Idyll aus sublimen Harmonien umfängt und man sich wie in ein kuschelig weiches Bett hineinfallen lassen möchte.

Ein besonderer Vorteil des Großen Saals: die Möglichkeit, Instrumentengruppen an ganz verschiedenen Stellen zu positionieren. So wird diese Aufführung der Intention des US-amerikanischen Komponisten in besonderem Maße gerecht, denn Charles Ives sah eine räumliche Aufteilung ausdrücklich vor. Von Block E aus sind nur die vier Flötisten zu sehen, die als einzige mit Salonen auf der Bühne platziert sind.

Die wohligen Streicherklänge, die in der Luft liegen, scheinen daher einfach so aus dem Nichts zu kommen. Auch die Trompete scheint wie aus weiter Ferne zu tönen, durchdringt aber mit der Deutlichkeit eines Schiffshorns die musikalisch-philosophische Meditation.

Das Herzstück dieses Abends im Zeichen des Into Iceland Festivals bildeten die Werke zweier Stars der zeitgenössischen isländischen Musik: Anna Thorvaldsdottir und Haukur Tómasson. Beide ließen es sich nicht nehmen, ihren Kompositionen in Hamburgs Klangtempel an der Elbe persönlich zu lauschen.

Anna Thorvaldsdottirs Komposition ist so gewaltig und kraftvoll wie ein Naturschauspiel: überwältigend und existenziell. „Aeriality meint den Zustand des durch die Luft Gleitens mit nichts, was Halt gibt. Die Musik beschreibt diesen Zustand totaler Freiheit – und das Unbehagen, das damit verbunden ist“, sagt die Komponistin selber über ihr Werk.

Mächtige Orgelpunkte verändern permanent ihre Struktur und ziehen die Zuhörer mit sich. Das Ohr lauscht gespannt, wenn Salonen auf zauberhafte Weise Klänge zu formen scheint, die sich ausbreiten über vielfältige Klangregister und Farben an Dynamik und Intensität zulegen und mit spannenden Effekten aufwarten. Es ist ein Rauschen, ein Sich-Zusammenbrauen. Am Ende strahlt aus den Streichern eine Melodie hervor, die tröstet und wärmt.

Wer das verpasst hat, hat was verpasst. Es ist enorm, welche Spannung die Musiker des NDR Elbphilharmonie Orchesters ganz besonders im Leisen kreieren. Am Schluss ist nur noch ein einsamer Kontrabass übrig, kaum hörbar schwindet mit ihm die Musik ins Nichts – und hinterlässt absolute Stille. Kein einziger Huster ist zu hören. Der Applaus ist dafür umso lautstärker.

Ein Highlight jagt das nächste: Víkingur Ólafsson hat mehr als 8000 Likes auf Facebook und ist nicht nur in seiner Heimat Island ein umjubelter Klaviervirtuose. Der Youngstar mit dem flotten Seitenscheitel hat sich durch die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Philip Glass und der jüngst erschienenen Einspielung seiner Klavierwerke einen Namen gemacht. An diesem Abend hat er die besondere Aufgabe, zusammen mit Esa-Pekka Salonen und dem NDR Elbphilharmonie Orchester Haukur Tómassons zweites Klavierkonzert uraufzuführen.

Auch Tómassons Komposition besticht durch ungewöhnliche Klangeffekte und die Auslotung des Klangraumes. Im Vergleich zu Aeriality wirkt Tómassons Klavierkonzert aber geerdeter. Es pulsiert in einem moderaten Tempo, die markante Rhythmik entfaltet eine treibende Wirkung. Víkingur Ólafsson tropft akzentuiert und zielsicher melodische Versatzstücke zwischen die Einwürfe des Orchesters. Die Motivik befindet sich im steten Fluss, sie mäandert und eckt zum Teil hart an.

Da wird auch das konzentrierte Zuhören mitunter zur sportlichen Aufgabe. Flöten flirren und schnarren, den Streichinstrumenten werden durch das Spiel mit dem Bogenholz perkussive Qualitäten abgewonnen und auch der Konzertflügel klingt ungewohnt hölzern, wenn Ólafsson mit der einen Hand die Saiten dämpft, während die andere Hand in die Tasten greift.

Etwas weniger avantgardig geht es schließlich bei Igor Stravinskys Feuervogel zu – das Werk des Russen wurde erstmals am 25. Juni 1910 im Pariser Théatre National de l´Opéra aufgeführt. Hier hatten Esa-Pekka Salonen und das NDR Elbphilharmonie Orchester noch einmal Gelegenheit, die volle Breitseite ihres Könnens unter Beweis zu stellen und zu glänzen.

Klanglich wurde auch hier einiges geboten: das Orchester ist opulent aufgestellt, inklusive Celesta und Tamtam und dreier Harfenistinnen. Die Solisten des Orchesters dürfen sich über zahlreiche Solostellen freuen, allen voran die Hornistin: sie formt einen vollen und beweglichen Ton, der Eindruck hinterlässt. Die Soloklarinette und Solooboe entfalten ebenfalls ein betörend schönes Timbre. Aber auch die Solobratsche und das Solocello haben klassik-begeistert.de besonders gut gefallen.

Diese Komposition macht tatsächlich umso mehr Spaß, je lauter sie ist. Und das Fortissimo des NDR Elbphilharmonie Orchesters an diesem Abend hat ordentlich Wumms – genauso muss das sein!

Wenn man Salonen zusieht, bekommt man einen Eindruck davon, was für ein sportlicher Beruf Musik sein kann. Zackig-geschmeidig navigiert er durch fünfzig Minuten Ballettmusik, die keine Tänzer benötigt, wenn sie einen leidenschaftlichen Dirigenten hat. Und der gibt sich nun mal nicht mit der verkürzten Konzertbearbeitung zufrieden. Der Salonen lässt es rappeln im Karton!

All die markanten rhythmischen Impulse lassen das Herz schneller schlagen. Und neben dem großen Temporeichtum bleiben auch die ruhigen Töne nicht auf der Strecke; aus der Berceuse, dem Schlaflied des Feuervogels, hört man eine Melancholie heraus, die einen unwillkürlich an die isländischen Weiten denken lässt…

Leon Battran, 12. Februar 2017,
für klassik-begeistert.de

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