Leo Nucci: Mit 75 Jahren zu Gast in den Top-Opernhäusern Europas

Giuseppe Verdi, Nabucco
Wiener Staatsoper, 11. Februar 2017

Darf ein knapp 75 Jahre alter Bariton noch die Hauptrolle in einer Oper singen? Diese Frage stellt sich klassik-begeistert.de nach dem Besuch von Giuseppe Verdis Oper „Nabucco“ in dem vielleicht bedeutendsten Opernhaus der Welt: der Wiener Staatsoper. Dort übernimmt der Bariton Leo Nucci, der am 16. April 1942 in Castiglione dei Pepoli bei Bologna zur Welt kam, derzeit die Partie des Nebukadnezar.

Wer mit dem Maßstab, dass in diesem außergewöhnlichen Opernhaus nur außergewöhnliche Stimmen zu erklingen haben, an diese Aufführung herangeht, der dürfte von Nucci eher enttäuscht gewesen sein. Seine Stimme erklang zu Beginn sehr brüchig, viele Töne saßen nicht und es wollte sich einfach kein Wohlgefühl beim Zuhören einstellen. War der Ausnahmekünstler richtig eingesungen?

Aber der knapp 75-Jährige teilte sich die Partie sehr souverän ein, und wurde von Satz zu Satz besser. Sein Bariton erklang immer voller und resonabler. Dass im höheren Register von einem Sänger seiner Altersklasse keine Spitzenleistungen mehr zu erwarten sind, liegt auf der Hand. Nuccis Stimme stößt außerhalb der Mittellage deutlich an Grenzen und weiß vor allem im Piano und im Forte nicht mehr zu bezaubern.

Auch der „Neue Merker“ fand zur Wiederaufnahme des Verdi-Frühwerkes am 8. Februar 2017 differenzierende Worte für den Italiener. „Der Super-Vertreter dieser Rolle ist nun bereits sehr von der Tagesverfassung abhängig, die Wetterkapriolen taten das ihrige, es war eigentlich wirklich nicht sein Abend. Darstellerisch überzeugte er wie schon lange nicht mehr, der Insult, die Gottesstrafe, gestaltete er so intensiv das man schon dachte , …, was ist passiert? Gesanglich teilte es sich der schlaue Fuchs geschickt ein, und die große Szene ‚Ido di Giuda’  war tatsächlich einwandfrei.“

Ja, die Spielfreude des Leo Nucci in der 74. Aufführung dieser Inszenierung von Günter Krämer – wunderbar unaufgeregt und trotzdem stimmungsvoll, vor allem mit der hebräischen Schrift auf den Vorhängen und auf der Bühnenwand, die sich auflöst – ist wirklich ungebrochen. Die Rolle des Nabucco, König von Babylon, ist ihm auf den Leib geschnitten. Die Frage ist nur, ob ihm nicht mit etwas kleineren Partien mehr geholfen wäre. Das Wiener Publikum in der restlos ausverkauften Staatsoper war teilweise hin und weg. Viele Zuhörer goutierten die Leistung Nuccis mit sehr viel Applaus und Bravo-Rufen, die dieser mit größter Freude zur Kenntnis nahm – er ist Österreichischer Kammersänger und Ehrenmitglied an der Wiener Staatsoper. Bereits 1979 debütierte er in Wien als Barbiere-Figaro in „Il barbiere di Siviglia“ von Gioachino Rossini.

An den großen Häusern in Europa wird Leo Nucci immer noch hoch geschätzt. Im Februar und März 2017 singt er den Giorgio Germont in Verdis „La Traviata“ – im Oktober und November im selben Haus noch einmal den Nabucco. Auch im Gran Teatre del Liceu in Barcelona gibt er im März und April eine große Partie: den Rigoletto in Verdis gleichnamiger Oper. Ja, und im Mai und Juni noch einmal in Las Palmas und Budapest. Nicht zu vergessen die „La-Traviata“-Partien in Palermo im März/April und in München an der Bayerischen Staatsoper im Mai.

Dieser Nucci steht hoch im Kurs. Allein, so respektabel wie der Bariton Placido Domingos, 75, erklingt seine Stimme nicht mehr.

Der Italiener hat eine beeindruckende Vita vorzulegen, wie auch Wikipedia schön zusammengefasst hat: „Schon während seiner Lehrzeit als Schlosser begann Leo Nucci ab 1957 seine Stimme bei Mario Bigazzi ausbilden zu lassen und setzte seine Gesangsstudien dann bei Giuseppe Marchesi in Bologna in den Jahren zwischen 1959 und 1968 fort. 1967 gewann er einen Gesangswettbewerb in Spoleto. Dieser Erfolg brachte ihm seinen ersten Bühnenauftritt als Figaro im Barbiere di Siviglia von Rossini ein. Er ergriff jedoch zunächst keine Solistenlaufbahn, sondern wurde Mitglied des Chores der Mailänder Scala. Nach erneuten Studien bei Maestro Ottoviano Bizzani in Mailand gewann er 1973 einen weiteren Wettbewerb (Concours de Vercelli) und debütierte erneut als Solist, diesmal in der Titelrolle in Verdis Rigoletto. Nach einiger Zeit an italienischen Provinzbühnen erfolgte 1976 sein Debüt an der Mailänder Scala. Es folgten in den nächsten Jahren die Debüts an weiteren bedeutenden internationalen Opernbühnen (Royal Opera House Covent Garden London, Wiener Staatsoper, New Yorker Metropolitan Opera). Seitdem tritt er weltweit in seinem über 45 Rollen umfassenden Repertoire auf. Allein die Rolle des Rigoletto hat Nucci über 400 Mal gesungen. Er arbeitete mit fast allen bedeutenden Dirigenten und Gesangskollegen zusammen und nahm eine kaum überschaubare Anzahl von Schallplatten und CDs auf.“

Die Überraschung des Abends war der junge Bass Roberto Tagliavini als Hohepriester der Hebräer, Zaccaria. „Ein junger überzeugter Diener seines Herren – wo steht geschrieben das der alt sein soll,  seine Schwester Anna ist doch auch jung“, schreibt der „Neue Merker“ zurecht. „Eine wunderbare, nicht allzu schwarze, aber herrlich samtige Stimme. Beide Arien waren einfach ein Ohrenschmaus und Belcantofreude pur.“ Allein im ganz tiefen Register muss dieser italienische Sänger noch ein wenig zulegen – sein tiefes E erklingt noch ein wenig hemdsärmelig.

„Auch eine gute Figur machte der junge norwegische Tenor Bror Magnus Todenes in der unangenehmen Rolle des Ismaele. Er sang lyrisch schön, mit viel Seele und Kultur und fiel tatsächlich positiv auf.“

Die in Moskau geborene Anna Smirnova gab eine wilde Sklavin Abigaille, die vermeintlich Erstgeborene des Nabucco. Sie begehrt nicht nur den Thron, sondern auch Ismaele, den Neffen des Königs Zedekia von Jerusalem. „Das erste Terzett ist ja eine echte Aida-Situation und kam bei diesen Sängern glaubhaft gut rüber. Smirnova ist keine ‚Hochdramatische’, aber mit viel Kultur und toller Technik. Den Schluss nach dieser Mörderpartie pianissimo ohne Bruch zu singen, Brava! Dass sie in manchen Passagen etwas klirrend klingt, das ist fast unvermeidbar, die Tiefe ist toll, sitzt perfekt, eine sehr gute Vertreterin dieser ungeheuer schweren Rolle. Eigentlich Verdis schwierigste Partie, weil die heutigen Stimmen in dieser Zeit nie angesagt waren“, schreibt der Neue Merker.

Obwohl das sehr starke Vibrato der Russin sehr gewöhnungsbedürftig ist und die Stimme nicht immer frei und leicht, ja teilweise etwas gepresst erklang, war das Wiener Publikum hin und weg von ihrer Partie. Tosender Applaus und zahlreiche Brava!-Rufe.

Als Fenena, Tochter Nabuccos, sang die Mezzosopranistin Ilseyar Khayrullova ihre Arie eher ausdruckslos – das war keine Stimme zum Darniederknien – wirklich nicht der Abend der Russin. Ihre Stimme offenbarte weder Charakter noch Volumen, das Timbre zeigte keine spezielle Klangfarbe, und leider sang Khayrullova auch einige Töne falsch an.

Eine ganz wunderbare Nebenrolle gab der rumänische Bass Sorin Coliban als Oberpriester des Baal. Wow, dieses Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper und der Volksoper Wien hat wirklich eine voluminöse wie feine Stimme, warm und väterlich im Klang und mit einem unverwechselbaren Timbre! Es passt zu seiner Statue: Dieser Mann ist 1,95 Meter groß! Schade, dass Coliban nur so wenig zu singen hatte. Er war erst ganz kurzfristig für den erkrankten Ayk Martirossian eingesprungen.

Eine unübertroffen gute Leistung boten der Chor und der Extrachor der Wiener Staatsoper. Wer italienische Chöre liebt, der muss in diese Oper! Der weltberühmte Chor „Va, pensiero, sull’ali dorate“ / „Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln“, in dem die gefangenen Hebräer am Ufer des Euphrat ihr Schicksal beklagen, kam so frisch und unverbraucht aus den Kehlen der Sänger, dass es eine Wonne war, zuzuhören.

Die Spielfreude des Orchesters der Wiener Staatsoper unter dem leidenschaftlichen Dirigat von Guillermo Carciá Calvo war beeindruckend – keine Spur von einem langweiligen Repertoire-Abend. Berührend die schmelztongleichen Soli der 1. Flöte der Wiener Philharmoniker und des 1. Cellos!

Nabucco, uraufgeführt am 9. März 1842, hat auch das Mailänder Publikum zu einer euphorischen Begeisterung hingerissen. Die Zuhörer stürmten das Teatro alla Scala; es konnten kaum genug Vorstellungen angesetzt werden. Kein Wunder: Im „Nabucco“ überwand Verdi, der hier bereits als der geborene Operndramatiker mit einem unfehlbaren Instinkt für Bühnenwirksamkeit zu erkennen ist, seine Vorgänger Rossini, Bellini und Donizetti mit einem Schlag. Er grenzte sich stilistisch deutlich von ihnen ab, indem er anstelle der bisher üblichen lose aneinander hängenden Musiknummern eine Gliederung in geschlossenen musikalischen Szenen vornahm.

Das teilweise zum Selbstzweck degenerierte Ideal des virtuosen Ziergesangs, der pure Tonschönheit vor Charakterinterpretation stellte, schaffte Verdi zugunsten eines scharf konturierten expressiven Gesangs rigoros ab – eines Gesangs, der nach dramatischer Wahrheit strebt und auch vor grellen Effekten nicht zurückschreckt.

Andreas Schmidt,12. Februar 2017
klassik-begeistert.de

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