Foto © eno.org
English National Opera / London Coliseum, 29. Januar 2019
Giacomo Puccini, La Bohème (englische Übersetzung von Amanda Holden)
von Charles E. Ritterband
Die vierte Wiederaufnahme der überaus erfolgreichen Bohème-Inszenierung an der English National Opera ENO nach einem Jahrzehnt ist zwar durch und durch konventionell. Diese trägt unverkennbar die konservative Handschrift des inzwischen 84-jährigen Altmeisters Sir Jonathan Miller. Aber ein guter Teil des Stammpublikums im London Coliseum mag angesichts dieser traditionellen Interpretation aufgeatmet haben… nach der in die Jetzt-Zeit verlegten Bohème von Benedict Andrews vor drei Jahren mit ihren zwar ästhetischen minimalistischen Bühnenbildern, die jedoch Sachlichkeit, ja Kälte ausgestrahlt hatten. Im Gegensatz zum Royal Opera House (Covent Garden) präsentiert die ENO alle Aufführungen in englischer Sprache und ist für günstigere Eintrittspreise bekannt.
Immerhin – in einem nur scheinbar unwichtigen Detail weicht auch der konventionelle Miller vom Üblichen ab: Im letzten Akt bringt Musetta, in der jenseits aller frivolen Flatterhaftigkeit ein warmes Herz pocht, der sterbenden Mimi – nein, nicht wie sonst die Regel, den berühmten Muff, sondern ein Paar ganz banaler Handschuhe. Unwillkürlich fragt man sich, ob denn vielleicht der Requisiteur des London Coliseum jenen Muff vielleicht verlegt haben könnte – oder ob Miller in diesem Detail vielleicht doch ganz bewusst, ja augenzwinkernd trotz des tödlichen Ernsts der Lage, mit Absicht den obligaten Muff gegen die unkonventionellen Lederhandschuhe ausgetauscht haben mag. Wir werden es wohl nie erfahren.
Jener Muff allerdings ist nicht ganz bedeutungslos. Die berühmteste Arie aus der Bohème ist ja, wie jedes Kind weiß, das berühmte „Che gelida manina“ (wie eiskalt ist dies Händchen“ – zweifellos die Nummer Zwei in der allgemeinen Bekanntheitsskala, natürlich nach dem Dauerbrenner „Nessun dorma“). Die „eiskalten Hände“ der Lucia, alias Mimi, sind Symptome der tödlichen Krankheit, von der sie vom ersten Akt an schicksalshaft gezeichnet ist. Und eben deshalb ist der wärmende Muff so wichtig, den sie sich ebenso innig wünscht, wie sie sich vergeblich an ihr verglühendes Leben klammert. Doch der Muff kommt zu spät – erst in ihrer Todesstunde. So ist dieser Muff mehr als nur irgendein Bühnenrequisit: er ist eine Metapher für Lebenssehnsucht. Banale Lederhandschuhe bieten da keinen Ersatz und sie sind auch nicht sonderlich originell – sorry, Mr. Miller.
Dafür taucht der Londoner Zuschauer atmosphärisch ganz ins Paris der 30er Jahre; die Umbauten sind durch die drehbaren Kulissen gut gelöst – so verwandelt sich das Atelier der vier hungrigen Künstler in wenigen Augenblicken in die vorweihnachtliche Straßenszene mit dem berühmten Café Momus. Man ist dankbar, dass die in anderen Inszenierungen wenig überzeugende Szene an den Zollschranken am Stadtrand zu Anfang des dritten Aktes hier zu einer atmosphärisch stimmigen Vorstadtszene umgedeutet wurde, die sich im Handumdrehen wieder ins Atelier zurückverwandelt, während es inzwischen Frühling geworden ist
Das ENO-Orchester gab Puccinis sinnliche Klänge ebenso präzis wie einfühlsam wieder, unterstützt von der hervorragenden Akustik des riesigen Saals: Das 1904, auf dem Höhepunkt der viktorianischen Ära erbaute Coliseum ist mit seinen 2359 Plätzen das größte Theater des Londoner West End. Die stimmlichen Leistungen hingegen waren unterschiedlich. Während Natalya Romaniw ihrer Mimi ein warmes Timbre verlieh und sowohl ihre bedingungslose Hingabe an Rodolfo als auch die Hoffnungslosigkeit, das Leiden an ihrer tödlichen Krankheit sehr bewegend darstellte, wirkte Jonathan Tetelman als ihr Geliebter anfänglich eher hölzern. Seine Stimme wirkte eher passend für das Musical-Fach, dem ja im West End erhebliche Bedeutung zukommt. Doch in den Duetten mit seiner Mimi gewann auch Tetelmans an Wärme und Innigkeit.
Der unbestrittene Star des Abends war Nadine Benjamin mit ihrer virtuosen Koloratur-Stimme als Musetta, die alle Lagen makellos meisterte und – wie ja in der Momus-Szene im 2. Akt beabsichtigt – die Szene inmitten der Menschenmassen auf der großen Bühne des Coliseums mühelos dominierte. Ihr sprühender Charme, ihre Frivolität, ihre Spitzzüngigkeit, aber auch ihre Skrupellosigkeit – all dies machte die aus dem ärmeren Südlondoner Stadtteil Brixton stammende Nadine Benjamin zum unbestrittenen Star des Abends. Erst vor wenigen Wochen war sie als Clara („Summertime“) in der grandiosen Inszenierung von Porgy and Bess der ENO zu bewundern.
Charles E. Ritterband, 31. Januar 2019, für
klassik-begeistert.de
Alexander Joel, Dirigent
ENO Orchestra
Jonathan Miller, Regie
Isabella Bywater, Bühnenbild
Nicholas Lester, Marcello
Jonathan Tetelman, Rodolfo
Matthew Durkan, Schaunard
Natalya Romaniw, Mimi
Nadine Benjamin, Musetta
Simon Butteriss, Alcindoro