Erniedrigt, beleidigt, und immer im Dienst: Alban Bergs Oper „Wozzeck“ in Chemnitz

Alban Berg, Wozzeck  Oper in drei Akten   Chemnitzer Opernhaus, 16. Juni 2023 PREMIERE

Foto: Alban Berg: Wozzeck, Thomas Essl (Wozzeck), Cornelia Ptassek (Marie) © Nasser Hashemi

Nach über 90 Jahren ist endlich eine Neuinszenierung des „Wozzeck“ in Chemnitz zu sehen. Ohne den mittlerweile belanglosen „Eat the rich“-Pathos, den wir überall sehen, zeichnet sie gnadenlos das Bild einer verkommenen Oberschicht, in der sich menschliche Bindungen in Dekadenz und soziale Kälte auflösen. Dabei gelingt es der Regie seitens eines betörenden Dirigats und überzeugender sängerischer Leistungen, Alban Bergs verstörendem Meisterwerk neues Leben einzuhauchen.

Alban Berg: Wozzeck
Oper in drei Akten
Nach dem Drama „Woyzeck“ von Georg Büchner

Guillermo García Calvo, Dirigent
Robert-Schumann-Philharmonie

Balázs Kovalik, Regie
Sebastian Ellrich, Bühne und Kostüme

Chemnitzer Opernhaus, 16. Juni 2023 PREMIERE

von Leander Bull

„Wir armen Leut’!“, heißt es immer wieder in Alban Bergs Oper Wozzeck, seiner Verarbeitung des berühmten Georg Büchner-Fragments Woyzeck. Keine Mittel werden bei Berg gespart, um das elende Schicksal des erniedrigten und beleidigten Antihelden Wozzeck, der letztendlich seine Frau Marie umbringt, zu schildern: Er komponiert atonal, bitonal, hantiert mit vielen Anspielungen und verlangt ein gigantisches Orchester. Das Opernhaus Chemnitz hat sich mit seiner ersten Neuinszenierung seit 1932 nun an diese unheimlich intensive und finstere Musik herangewagt.

Zunächst hat man Bedenken beim Konzept der Neuinszenierung. Statt die finanzielle Armut zu zeigen, um die es im Wozzeck nun mal geht, möchte Regisseur Balázs Kovalik eine „innere Armut“, einen sozialen Mangel, hervorheben, und verlegt das Geschehen in eine zeitgenössische Businesswelt. Der Hauptmann wird zum Manager, Wozzeck rennt von Büro zu Büro, alles im einfallsreich kreisförmigen Bühnenbild, in dem Sebastian Ellrich die Zahnräder der Disziplinarmaschine des Betriebsalltags offenlegt.

Trotz dieser Verschiebung trifft die Inszenierung ins Schwarze. Ohne das Stück zu entpolitisieren, geschweige denn billig zu aktualisieren, sorgt Kovaliks Inszenierung für Aufruhr. Anstatt die Oper mit abgeschlossenem Historienkitsch zu entkräften, wird das Publikum durch seine bissige, nachvollziehbare Zeitdiagnose verstört. Dabei wird das Grundgerüst des Stücks durchgängig gewahrt, da nicht nur seine offene Form beachtet wird, sondern ebenso alle Konflikte im Kern intakt bleiben.

Auch haben wir es hier nie mit einer belehrend durchsichtigen Sozialkritik zu tun. Das Verstörende ist vielmehr, dass wie bei Berg das Komische und Tragische Hand in Hand gehen. Wenn ein dekadenter Exzess der Chefetage dem nächsten folgt, weiß man nicht so recht, ob man belustigt oder verstört sein soll. Diese Dekadenz trifft ebenso einen weiteren Kern der Figuren bei Berg: Hauptmann, Doktor, Tambourmajor, sie alle sind vor allem gelangweilt. Auch die Hervorhebung des leidenden Kindes, welches für das resignierte, offene Ende der Oper ausschlaggebend ist, ist treffend. Man denke nur an die nach wie vor hohe Kinderarmut in Deutschland und den fehlenden politischen Willen, etwas daran zu ändern.

Vorn v.l.: Inkyu Park (Soldat), Thomas Essl (Wozzeck), Karl Felix Kramny (Maries Knabe); hinten: Opernchor © Nasser Hashemi

Dabei erschafft die gedoppelte Bühne einen Reflektionsraum für das Publikum, wobei einfallsreich surreale Einschnitte immer wieder neue psychische Horizonte öffnen, die Wozzecks wahnhafte Visionen eindringlich beschwören. Die Inszenierung dieser skurrilen Sequenzen, die die Sprache des Librettos hervorragend sinnlich aufnehmen, erlauben nie eine plumpe Individualisierung, sodass man sich immer wieder fragt: Ist Wozzeck verrückt, oder ist es nicht vielmehr die Welt, in der er lebt? Dazu: Selbst, wenn die Armut im Geschäftsleben verschwindet, treibt einen diese tägliche Erniedrigung nicht ebenso in den Wahnsinn?

Der Bariton Thomas Essl leistet dabei als Wozzeck ein fulminantes Debüt, das diese schwierige Figur in all ihren bemitleidenswerten und wahnhaft verstörenden Winkeln auflodern lässt.  Über den Abend hinweg wird er mit der Partie immer wärmer, sodass seine gequälten, schweren Töne eine Eindringlichkeit annehmen, die dank seiner Textverständlichkeit und der intelligenten Regie eine unvergessliche Figurenzeichnung bilden. Seine Interpretation der Arie „Wir armen Leut’!“ geht wirklich unter die Haut.

Vorn: Sophia Maeno (Magret), Thomas Essl (Wozzeck); hinten: Opernchor © Nasser Hashemi

Die übrigen Gesangspartien sind rundum befriedigend besetzt. Obwohl Cornelia Ptassek ihre Kräfte anfangs etwas zu sehr spart, gelingt ihr eine besinnliche, verzweifelte Bibelszene. Alexander Kiechle singt den Doktor vielleicht etwas zu melodisch, doch durch seinen treffsicheren Gesang und seine grausame Arroganz entsteht im Labor eine  explosive Mischung. Michael Pflumms verkommener, einfältiger Hauptmann („Moral: Das ist, wenn man moralisch ist!“) ist allein darstellerisch schon ein Fest, wobei Reto Raphael Rosin als Tambourmajor gesanglich etwas im Hintergrund verschwindet, was jedoch inszenatorisch überaus stimmig ist.

Thomas Essl (Wozzeck), Cornelia Ptassek (Marie) © Nasser Hashemi

Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo führt die Robert-Schumann-Philharmonie mit mäßigen Tempi durch dieses schwierige Werk, wobei ihm allein die klangliche Kohärenz des Dirigats hoch anzurechnen ist – man bedenke nur, dass Erich Kleiber bei der Uraufführung des Wozzeck 1925 um die hundert Proben gebraucht haben soll. Calvos Interpretation arbeitet mit mäßigen Tempi gekonnt die Feinheiten dieser verzwickten Partitur heraus, ohne über musikalische Details zu stolpern. Manche dieser klanglichen Kleinode erleuchten zwar nicht vollständig, doch es gelingt ihm,  die Szenen des Werks in den Zwischenspielen berauschend zu verflechten. Die Musik Bergs, laut Pierre Boulez „die letzte Treibhauspflanze der Spätromantik“, wird hier in ihrer expressiven, finsteren Wucht beschworen.

Jean Baudrillard schrieb einst, es gäbe Disneyland nur, damit die Amerikaner beim Verlassen des Freizeitparks nicht mitbekommen, dass sie in einem noch viel größeren Disneyland leben. Genau das ist auch die Gefahr einer Wozzeck-Inszenierung. Nach der Darbietung des endlosen Elends der „armen Leut’“ und dieser expressiven, gefährlichen Musik schrieb ein Besucher der Uraufführung 1925, er habe das Gefühl, nicht aus der Staatsoper unter den Linden, sondern aus einem „öffentlichen Irrenhaus“ zu kommen – „Auf der Bühne, im Orchester, im Parkett“. So könnte es so manchen Operngängern, die vor allem das Haus besuchen, um in der Pause Champagner zu trinken, allzu leicht fallen, den Wahnsinn der Erniedrigten beim Verlassen der Oper auf der Bühne hinter sich zu lassen.

Die Stärke dieser Neuproduktion – die formvollendete Zusammenkunft einer tragikomischen Inszenierung, eines ausdrucksstarken Dirigats, sowie betörender Sänger und Sängerinnen – ist, dass man sich beim Verlassen des „Irrenhauses“ gar nicht so sicher ist, ob man nicht zurück in ein noch viel größeres tritt. Ein Fazit, das sowohl der genialen Dichtung Büchners, als auch der unvergesslichen Musik Bergs gerecht wird.

Leander Bull, 17. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Alban Berg, Wozzeck, Oper in drei Akten (15 Szenen), Wiener Staatsoper, 27. März 2022

Alban Berg, Wozzeck Bayerische Staatsoper, Nationaltheater München, 25. November 2019

Alban Berg, Wozzeck,  Deutsche Oper Berlin, 15. November 2018

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